In letzter Zeit habe ich mich ein bißchen mit dem Altertum beschäftigt. Ein allgemeines kulturhistorisches Interesse habe ich sowieso, und in der aufgeheizten gesellschaftlichen Lage rund um die Flüchtlingsfrage wollte ich auch einen etwas distanzierteren Standpunkt finden, von dem aus man etwas klarer sehen kann wie die Lage ist, und wie das im Vergleich mit ähnlichen Situationen in der Geschichte aussieht. Das verhilft vielleicht auch zu einem etwas kühleren Kopf, das habe ich mir wenigstens davon versprochen.
Ich habe, glaub ich, genug zusammen getragen, was auch für Euch Leser interessant sein könnte, obwohl's mal wieder nicht um HiFi geht.
Die erste und vielleicht nützlichste Erkenntnis ist, daß wir keineswegs in einer einzigartigen, neuen Situation sind. Solche Konfrontationen um die Themen "Fremde im eigenen Land", "Flüchtlinge", "Religionskonflikte" und "Fanatismus/Terrorismus" hat es schon öfter gegeben, über Tausende von Jahren hinweg. Wäre doch seltsam wenn man daraus nicht etwas Gutes lernen könnte. Die Kehrseite der Medallie ist, daß dabei über die Jahrtausende sehr viel Blut vergossen wurde. Das macht die Lehren daraus umso wichtiger.
Die ältesten Beispiele gehen unvermeidlicherweise ins Religiös-Mythologische zurück. Das heißt wir können nicht sicher sagen was damals tatsächlich passiert ist. Wir haben nur eine vielfach überarbeitete Erzählung davon, die die Fakten so oft übermalt hat, daß sie bloß noch zu erahnen sind. Das ist aber vielleicht gar nicht so schlimm, denn es ist die Erzählung, die in diesen Fällen die Wirkung auf die Nachwelt entfaltet, und nicht die Fakten. Die Fakten verlieren sich in der Geschichte, die Erzählung bleibt. Da trifft sich die Sache witzigerweise mit unserer (angeblich) "postfaktischen" Mediengesellschaft. Auch da zählt die Erzählung mehr als die Fakten. Die Silbe "post-" ist gänzlich unangebracht, denn das Phänomen ist uralt. Jeder Prediger und Geschichtenerzähler der letzten 5000 Jahre hat es genutzt. Im Gegenteil ist die Betonung der Faktenlage die neuere, moderne Erscheinung, und die immer wieder überarbeitete und umgedeutete Erzählung die ältere Form. Das Post-Faktische ist eigentlich das Prä-Faktische.
Wer im Altertum nach Beispielen für unser Themenfeld sucht, kommt praktisch unmittelbar auf die biblische Geschichte vom Auszug aus Ägypten und der damit zusammenhängenden Gründung des "Bundes" zwischen dem jüdischen Gott und seinem Volk, mit der Figur des Moses im Zentrum. Diese Geschichte kennen die meisten von Euch bestimmt, schon weil sie immer wieder verfilmt worden ist. Leider finde ich die allermeisten dieser Verfilmungen (wenigstens die, die ich kenne) so tendenziös, daß sie schon eher der Kategorie der Propaganda zugerechnet werden müssen. Ich kann nur empfehlen, sich mit dem biblischen Text möglichst unbelastet und unvoreingenommen direkt zu beschäftigen. Das ist weniger mühsam als man wegen der seltsam altertümlichen Sprache erwarten würde.
Die Geschichte wird im zweiten Buch Mose erzählt, das deswegen auch "Exodus" heißt. Im Grunde ist es die Geschichte der Gründung der jüdischen Religion, und weil aus der jüdischen Religion viele Jahrhunderte später zuerst die christliche, und dann die muslimische Religion hervorgegangen sind, ist es im Grunde die Ursprungslegende aller drei Religionen. Damit sollte die enorme Relevanz dieses Textes klar sein, gerade auch heute und für unser Thema, obwohl die dort beschriebenen Ergeignisse, so weit sie überhaupt geschehen sein sollten, mehr als 3000 Jahre zurück liegen.
Der geschichtlich durchaus reale Hintergrund ist, daß auf dem Territorium der damaligen Hochkultur Ägyptens, im östlichen Nildelta, eine Gruppe von nicht-ägyptischen Einwandereren lebte, die als die "Hyksos" bekannt geworden sind (eine griechische Wiedergabe eines ägyptischen Wortes). Fremde also, von denen vermutet wird, daß sie von Nordosten her in das Nildelta eingewandert sind, als Folge eines Migrationsdrucks, der letztlich von indogermanischen Wanderungsbewegungen ausging. Diese Hyksos werden mit den späteren Israeliten identifiziert, deren Auszug aus Ägypten dann im Buch Exodus erzählt wird.
Diese Erzählung versucht den Eindruck zu erwecken, die Israeliten (Hyksos) wären von den Ägyptern unterdrückt worden, und wären schließlich unter Moses befreit worden, woraufhin sie sich wieder zurück nach Nordosten bewegt hätten, um dort im "verheißenen Land" zu siedeln. Die geschichtliche Faktenlage sieht aber wohl eher so aus als wären sie über geraume Zeit die Herrscher in Ägypten gewesen, und schließlich von dort vertrieben worden. Die biblische Erzählung stellt das auf den Kopf, was psychologisch gar nicht so unwahrscheinlich ist, denn dadurch wird immerhin eine Niederlage zu einem Sieg umgedeutet.
Ob sie nun rausgeschmissen wurden oder selber gegangen sind, es ist der Auslöser für eine Legendenbildung, und für die Herausbildung einer neuen Religion gewesen. Die jüdische Religion basiert in diesem Sinne auf Flucht und Vertreibung. Im jüdischen Selbstverständnis ist diese Grundlage bis heute prägend, der jüdische Gott wird als Befreier von der ägyptischen Unterdrückung verstanden, und im religiösen Schrifftum der Juden wimmelt es von Bezugnahmen darauf. Im positiven Sinne wird dadurch immer wieder daran erinnert, daß die Juden selbst Flüchtlinge vor Unterdrückung sind, und somit Verständnis und Rücksicht für andere Flüchtlinge aufbringen sollen.
Die Kehrseite davon ist aber die Abgrenzung. Die Etablierung eines Bundes zwischen dem jüdischen Gott und seinem Volk, mit der Forderung absoluter Loyalität, ist in dieser Form ein Novum in der Geschichte. Bei anderen Religionen aus dieser Zeit findet man keinen solchen Bund, die Götter wurden als Fakt betrachtet, Loyalität hatten diese Götter gar nicht nötig, im Zweifel hatten ohnehin nur die Menschen den Nachteil, die Götter haben nichts zu verlieren. In Ägypten forderte der Pharao Loyalität für sich selbst ein (wurde aber immerhin gottgleich verehrt). Der jüdische Gott wird dagegen als eifersüchtig und rachsüchtig dargestellt. Moses und Andere verhandeln sogar mit ihm und schaffen es manchmal, seinen Furor zu besänftigen.
Das wird manchmal als die Geburt des Monotheismus bzw. der monotheistischen Religionen angesehen, aber man sollte sich das genauer ansehen: Es geht gar nicht darum ob es andere Götter gibt oder nicht. Über weite Strecken sieht es im biblischen Text eher so aus als würde auch Gott selbst die Existenz anderer Götter einräumen. Das Gebot der Ausschließlichkeit gilt nur für sein Volk. Es ist also keine Aussage über Existenz oder Nichtexistenz anderer Götter, es ist die Forderung nach Loyalität oder Treue an sein eigenes Volk. Die Aussage ist nicht: "Es gibt keinen anderen Gott!", sondern "für Euch hat es gefälligst keinen anderen Gott zu geben!"
Darum geht es bei diesem "Bund" zwischen Gott und seinem Volk: "Ihr glaubt an mich und NUR an mich, und dafür gebe ich Euch Euer gelobtes (=versprochenes) Land". Das ist ein Bund nicht nur "für" etwas, sondern auch einer "gegen" etwas, er richtet sich nämlich gegen die bisherigen Bewohner dieses Landes, und gegen ihre Götter (die als Götzen verunglimpft werden). Das hat unappetitliche Konsequenzen: Die betreffenden Völker, die dort sitzen wo die Israeliten hin wollen, werden zum Abschuß freigegeben. Die Sprache und der Eifer, mit dem das immer wieder eingehämmert wird, hat genozidale Züge. Diese Völker sollen ganz wörtlich ausgerottet werden, und der Angehörige des "Gottesvolkes" erregt Gottes Zorn, wenn er dabei nicht maximal konsequent und unemotional vorgeht, und es versäumt, alle abzuschlachten, denen er habhaft werden kann.
Ich überlasse es Euch, für diese Blaupause weitere Beispiele in der nachfolgenden Geschichte zu suchen. Ich beschränke mich auf den Hinweis, daß es über die vielen Jahrhunderte offenbar etliche gegeben hat, bis in unsere unmittelbare Vergangenheit und Gegenwart.
Sehr prägnant tritt das hervor in der Episode, wo Moses die Gesetzestafeln bekommt, mit den zehn Geboten drauf. Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten in der ganzen Bibel, weil sie so zentral für gleich drei Weltreligionen ist, und weil sie sehr plastisch vor Augen führt, was an diesen Religionen so problematisch ist. Die Rahmenhandlung ist wohlbekannt und schnell erzählt: Moses kommt mit seinem Volk auf der Wanderschaft nach dem Auszug aus Ägypten an den Berg Sinai, und während das Volk am Fuß des Berges lagert, steigt er hinauf und erhält dort von Gott zwei Steintafeln, auf denen die zehn Gebote aufgeschrieben sind. Während er weg ist, wird das Volk unruhig und macht sich ein goldenes Kalb als Götterbild, das es anbetet. Als Moses vom Berg herunter kommt und das sieht, zerschmettert er die Steintafeln und tobt. Er zerstört das goldene Kalb, und läßt seine loyalsten Kräfte, die Leviten, bewaffnet durch das Lager ziehen und -- mehr oder weniger willkürlich -- 3000 Leute abschlachten.
Die zehn Gebote, die auf diese gruslige Art und Weise in die Welt gekommen sein sollen, gelten unter Religiösen als eine Art Grundlage für alle Moral. Wie ironisch, daß gerade die Grundlage von Moral auf eine derart unmoralische Art und Weise gelegt worden sein soll! Das läßt sich in alle möglichen Richtungen interpretieren, auch solche die für die Religionen alles andere als schmeichelhaft sind. Zum Beispiel fällt mir ins Auge, wie ähnlich das doch den Umtrieben des islamischen Staates heutzutage ist. Du betest den falschen Gott an? Rübe ab! Sogar das Schwert, heute als Kriegswaffe denkbar ungeeignet, hat hier ein Comeback: Der IS demonstriert eine blutige Form der Nostalgie, wenn er das gleiche Mordinstrument benutzt, das mehr als 3000 Jahre zuvor auch schon die Leviten für den gleichen heiligen Zweck benutzt haben sollen. Die Parallele findet ihre Fortsetzung im Eifer, mit dem der IS religiöse Kultobjekte anderer Glaubensrichtungen zerstört. Da sind sie ganz bei Moses und seinem Umgang mit dem goldenen Kalb.
Diese zehn Gebote sehen für mich übrigens wie eine Mogelpackung aus, wie ein schlauer Trick, der ärgerlicherweise bis heute zu funktionieren scheint. Die Gebote bestehen nämlich aus zwei Teilen, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben müßten, die aber durch das Zusammenfügen in einem Kanon als zusammengehörig dargestellt werden. Die ersten paar Gebote unterscheiden sich von den restlichen durch zwei Dinge: Erstens drehen sie sich um die Gottesanbetung und seine Ausschließlichkeit, während die anderen Gebote die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln. Zweitens sind sie viel ausführlicher als die restlichen Gebote. Der erste Unterschied soll wohl bedeuten, daß die auf Gott bezogenen Gebote wichtiger sind als die anderen, weil sie zuerst kommen. Der zweite Unterschied deutet an, daß die sich auf das Zusammenleben beziehenden Gebote nicht groß erklärt werden müssen, die auf Gott bezogenen dagegen schon. In der Tat sind die auf Gott bezogenen Regeln neu, aber die auf das menschliche Zusammenleben bezogenen Gebote wohl auch damals schon ein alter Hut gewesen. Daß man nicht lügen, betrügen, stehlen oder morden soll, wird den Leuten auch damals nicht fremd gewesen sein, denn immerhin kamen sie aus Ägypten, einem gut organisierten Staatswesen, einer Hochkultur. Wenn man diese Selbstverständlichkeiten mit den Geboten zur Anbetung des einen, ausschließlichen Gottes verbindet, was gerade damals überhaupt keine Selbstverständlichkeit war, dann ist das ein Trick um die Selbstverständlichkeit des Einen auf das Andere zu übertragen.
Die Geschichte macht auch deutlich, wie falsch gerade das Gebot "Du sollst nicht töten" heutzutage verstanden wird. Wenn ausgerechnet derjenige, der die Gebote direkt von Gott empfangen hat, kurz danach einen Massenmord anordnet, und zwar angeblich auf Gottes Geheiß, dann muß man sich schon überlegen was das eigentlich zu bedeuten hat. Offenbar gilt das Tötungsverbot nur innerhalb derjenigen Gruppe, für die der erwähnte "Bund" gilt. Gegenüber Andersgläubigen, auch solchen aus der eigenen Gruppe, gilt das Gegenteil: Die Verpflichtung, sie auszurotten. Wer aus dem "Bund" ausschert, hat sein Lebensrecht verwirkt. Kann man da wirklich behaupten, die Gotteskrieger des IS, oder der Taliban, oder welcher sonstigen radikalen Sekte auch immer, verstünden die Religion falsch? Hat Moses die Religion falsch verstanden?
Mir kommt es vor diesem Hintergrund eher so vor als verstünden diejenigen die Religion falsch, die man heute immer wieder als Religionsvertreter in den Medien vorgeführt kriegt. Diejenigen, die einem zu erklären versuchen, ihrer Religion, sei es nun der Islam in einer seiner vielen Formen, das Christentum in einer seiner vielen Konfessionen, oder das Judentum, ginge es vor allem um den Frieden und die Gewaltlosigkeit. Ich kaufe es ihnen ja gerne persönlich ab, und es stimmt auch daß sich in diesen über 3000 Jahren etwas getan hat, neue Propheten und neue Lehren, aber wie kann man die Wurzeln der eigenen Religion so verleugnen, und geradezu ins Gegenteil verkehren, zumal man ja klar vor Augen hat daß diese Wurzeln auch heutzutage ihre tödlichen Konsequenzen haben? Der friedfertige Anspruch ist ja nobel, aber daß er sehr weit von der Realität entfernt ist, liegt nicht daran, daß so viele Leute die Religion so verhängnisvoll mißverstehen, sondern daran, daß dieser Anspruch mit dem Kern und Ursprung der Religion in Konflikt ist. Der Fehler liegt sozusagen im System. Seit Anfang an.
Das führt zu enormen kognitiven Dissonanzen, bzw. zu Dissoziationen. Die Einen, die Friedfertigen, blenden den gewalttätigen und intoleranten Kern ihrer Religion aus. Die Anderen, die Eiferer, blenden den friedfertigen Teil ihrer Religion aus, und widmen sich der Herstellung dessen, was sie als göttlich gebotene Glaubenshygiene empfinden. Beide verstehen einander nicht einmal ansatzweise, und doch meinen sie die gleiche Religion zu repräsentieren.
Wenn ich z.B. noch einmal auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten zurück blicke, dann fällt mir auf, daß die Israeliten, wo sie einmal Abstand von den Ägyptern gewonnen haben, keineswegs ihren Völkermord-Eifer auf die ehemaligen Unterdrücker richten (die, wie oben beschrieben, gar nicht ihre Unterdrücker waren), sondern auf andere Völker, auf deren Land sie es abgesehen hatten. Ein Haß auf die Ägypter wäre ja vielleicht noch nachvollziehbar gewesen, aber dieser Gegner war wahrscheinlich zu stark, und zu beeindruckend in seiner kulturellen Dominanz. Stattdessen richtet sich ihr Furor gegen kleinere Völker, die einfach nur das Pech hatten, dort zu wohnen wo die Israeliten hin wollten. Die vielleicht sogar an guter Nachbarschaft interessiert gewesen wären, aber zu schwach waren um die Israeliten in Schach zu halten. Und diese krasse Ungerechtigkeit wird so arrogant wie mitleidlos mit einem göttlichen Auftrag und Versprechen gerechtfertigt. Damals wie heute gehen Dissoziation, Realitätsverlust, Empathieverlust und göttlicher Auftrag Hand in Hand.
Wieder denke ich an den IS. Eigentlich richtet sich sein Hass auf die westliche Kultur, allem voran auf die USA als ihr erster Repräsentant. Aber der ist zu groß um ihn direkt anzugreifen. Stattdessen wütet man z.B. gegen Jesiden, die zwar niemandem etwas angetan haben, aber dafür zu ihrem Pech dort saßen, wo der IS hin wollte. Und die zu schwach waren, um dem IS Paroli bieten zu können. Auch da Dissoziation ohne Ende. Der IS will dem Islam gegen den als christlich dargestellten Westen zum Durchbruch verhelfen, aber in der Praxis bringt er vor allem Moslems um. Leute werden geworben, indem man ihnen suggeriert sie erfüllten Gottes Auftrag, und dann benutzt man sie als Kanonenfutter. Je größer die Ambition, desto größer der Betrug.
Auch interessant: In der biblischen Erzählung gleich zu Anfang des Buches Exodus scheint durch, daß die ägyptische Unterdrückung der Israeliten dadurch hervorgerufen worden sei, daß die Israeliten so fruchtbar gewesen waren, daß ihre Menge den Ägyptern anfing, Angst zu machen. Es entstand angeblich die Sorge, die Israeliten würden sich im Ernstfall nicht loyal zu Ägypten verhalten, sondern könnten sich mit einem Feind verbünden. Durch die Belastung der Israeliten mit Arbeitsdiensten sollte deren Vermehrung begrenzt werden, was mißlang und die Ängste vergrößerte, bis hin zu einem angeblichen Pharao-Befehl, die israelitische Nachkommenschaft zu töten. Moses entging dem durch seine Aussetzung als Säugling auf dem Nil. Auch dieses Motiv sollte uns heute bekannt vorkommen. In dieses Horn der "demographischen Gefahr" haben seit Thilo Sarrazin viele Protagonisten aus dem rechten Spektrum geblasen. Die Furcht der Ägypter aus dem 2. Buch Mose scheint heute auch viele Deutsche erfaßt zu haben. Ihre vermeintliche Lösung läuft auf dasselbe hinaus: Exodus.
Dabei ist eine interessante aber wohl unbeantwortbare Frage, wo hier das Huhn und wo das Ei zu verorten ist. Einerseits kann man den Eindruck haben, daß die Ängste der Ägypter ihre Berechtigung hatten, denn die Israeliten haben sich ja nach ihrem Auszug sehr scharf abgegrenzt. Daß sie Ägypten gegenüber im Zweifelsfall loyal gegenüber gewesen wären scheint unter diesem Vorzeichen unwahrscheinlich. Andererseits kam es zur scharfen Abgrenzung ja erst nach dem Auszug, also quasi als Reaktion auf den Rausschmiß. Es waren ja die Ägypter, die den Israeliten erst das Leben schwer gemacht hatten. Warum hätten sie da noch loyal sein sollen? Hat also das Mißtrauen die Spaltung verursacht, oder die Spaltung das Mißtrauen?
Je nachdem wie rum man hier die Kausalität diagnostiziert, kommt man entweder auf ein Argument pro Multikulti, oder kontra Multikulti. Das Pro-Multikulti-Argument versucht, das Problem so zu lösen daß man durch Integration eine Spaltung, auch eine demografische Spaltung, im Ansatz zu vermeiden versucht, und so auch das Entstehen von Mißtrauen verhindert. Das Kontra-Multikulti-Argument geht vom Mißtrauen aus, und versucht die Spaltung nicht zu verhindern, sondern zu kontrollieren. So oder so muß man sich mit der Möglichkeit auseinander setzen, daß durch die Gegenmaßnahmen das Problem erst recht virulent wird, und der Schuß sozusagen nach hinten los geht.
Vor lauter Parallelen über die Jahrtausende hinweg ist es aber auch an der Zeit, daß ich auf etwas hinweise was heute wirklich fundamental anders ist als in den Jahrhunderten zuvor: Wir haben jetzt Menschenrechte. Das Konzept, daß unabhängig von der Volks- oder Religionszugehörigkeit jeder Mensch die gleichen grundsätzlichen Rechte hat, einfach weil er ein Mensch ist, das gibt's bei den Religionen nicht. Auch nicht bei den Christen, selbst wenn sie oft so tun als hätten sie's erfunden. Es wäre sonst auch kaum plausibel zu machen, warum die Christen 1900 Jahre gebraucht haben, um auf diese Idee zu kommen. Vorläufer hatte diese Idee natürlich in diversen Religionen und Kulturen, aber die eigentliche Vaterschaft dieser bahnbrechenden Neuerung gebührt dem Humanismus, und der steht erst einmal im Gegensatz zu den Religionen.
Wenn wir von unseren westlichen Kultur reden, so zweifelhaft und vage der Begriff auch sein mag, dann meinen wir damit zuvorderst dieses Konzept der Menschenrechte. Das bedeutet auch, daß es dabei eben nicht um das christliche Abendland geht, oder um die christlich-abendländische Kultur. Das Christliche gehört hier nicht rein, es hat sich reingemogelt. Die Christen waren zu einem großen Teil gegen die Menschenrechte. Wozu braucht man die auch, wenn man die göttliche Erlösung hat? Und wer sie nicht hat, weil er das Falsche glaubt, dann stehen ihm die Menschenrechte auch nicht zu, nicht wahr? Er kann dann nur auf die göttliche Gnade hoffen. Aber auch nicht zu sehr, denn er hat ja schließlich schwere Sünden zu büßen...
Wenn mein Text hier deutlich gemacht hat, wie weit das, was wir heute an religiös motivierter Barbarei erleben, auf die Wurzeln der Religion zurück geht, und nicht auf ein Mißverständnis der Religion, und wenn klar wird daß das für alle beteiligten Religionen gilt, und demzufolge kein Anlaß für eine der Religionen besteht, sich für die bessere zu halten, dann habe ich viel erreicht. Zu oft wird nämlich der Eindruck erweckt, als stünde hier eine richtige und eine falsche Religion gegenüber, oder ein richtiges und ein falsches Religionsverständnis. Dabei haben sie den eigentlichen Fehler alle gemeinsam.
Und noch was: Ich war mal wieder zu faul, Links herauszusuchen und zu setzen. Ich hätte viele setzen können, aber eigentlich reicht es, wenn Ihr die Quelle selber lest, z.B. das zweite Buch Mose. Versucht Euch von der kirchlichen Lesart frei zu machen, und unvoreingenommen an die Sache heran zu gehen. Das kann verblüffend schwer sein, wenn man von Kind an auf eine bestimmte Lesart getrimmt worden ist. Wem sich der Magen rumdreht beim Gedanken, daß Moses das antike Ebenbild eines Abu Bakr al-Baghdadi sein könnte, der hat es vielleicht mit so einer Vorprägung zu tun.
"Zu oft wird nämlich der Eindruck erweckt, als stünde hier eine richtige und eine falsche Religion gegenüber, oder ein richtiges und ein falsches Religionsverständnis. Dabei haben sie den eigentlichen Fehler alle gemeinsam."
AntwortenLöschenDarauf möchte ich kurz eingehen:
Ich sehe da einen gravierenden Unterschied zwischen einer reformierten Religion die sich in säkularisierten Staaten praktizieren lässt und einer Expansionistischen Religion mit Herrschaftsanspruch über alle Lebensbereiche. Das ist ja gerade die Kritik, das der Islam soweit ist wie das Judentum vor 4000Jahren.
Das Christentum hat diese Phase ja mittlerweile auch hinter sich, zumindest in weiten teilen.
Ich glaube nicht das viele Menschen in Europa ein Problem mit einem säkularisierten Islam hätten, der sich aus der politischen Debatte soweit raus hält wie es die Kirche mittlerweile tut, und die Regeln des Humanismus anerkennt. Es hat nur verständlicherweise keiner Lust nochmal ein paar Jahrhunderte Barbarei mitzumachen bis die jungste der drei monotheistischen Religionen sich die Hörner abgestoßen haben.
Wir sind gerade erst soweit das keine Rothaarigen mehr verbrannt werden, da will halt keiner anfangen Schwule zu steinigen. Ist ja auch irgendwo verständlich, oder?
Vor der Massemigration der letzten Jahre hatten wir in Deutschland ja auch Zuwanderung aus Islamischen Landern und die Leute haben sich zu grossen Teilen in unsere Gesellschaft integriert und dabei ihre Religion an unsere westliche Gesellschaft angepasst. So funktioniert Integration offenbar hervorragend. Schwierig, sogar gefährlich wird es, wenn versucht wird die Gesellschaft an die importierte Religion anzupassen. In diese Kategorie fallen für mich zum Beispiel Scharia-Polizei und Halal-Schlachtung. Leider gibt es in Deutschland im Moment keine Politische Partei oder Bewegung die ideologisch im Liberalismus und Individualismus verankert ist und diesen Dingen vernünftig (!) Paroli bietet.
war ein genuss zu lesen - sachlich, pointiert und das wesentliche herausstellend.
AntwortenLöschenzum kommentar:
es geht nicht drum, ob eine religion an unsere gesellschaft angepasst wird.
es geht drum, ob es eine organisierte form des glaubens ist mit alleinvertretungsanspruch und kontrolle der gläubigen mit vorschriften und geboten, drohungen wie hölle und verdammnis etc. oder um um einen glauben, der die individuelle beziehung zwischen einem menschen und einem irgendwie definierten göttlichen in den focus stellt.
ersteres wird immer zu konflikten führen, letzteres in der regel nicht.
es ist sicher richtig, dass die bedeutung der menschenrechte in ihrer politischen dimension erst mit dem heraufdämmern des humanismus in erscheinung trat.
doch gläubige menschen, oder spirituelle menschen oder wie immer man sie auch nennen mag waren immer der meinung, dass in der anderen person, im anderen menschen das göttliche lebt wie im eigenen herzen - da ist das menschenrecht quasi immanent und schon eingebaut
reinhard
"Das Christentum hat diese Phase ja mittlerweile auch hinter sich, zumindest in weiten teilen."
AntwortenLöschenHier in Deutschland, und in weiten Teilen Europas, kann man diesen Eindruck durchaus haben, wenn man sich die breite Masse der Gläubigen ansieht. Ich glaube aber, im globalen Maßstab täuscht das. Man braucht nur nach USA zu gehen, wo bald die Hälfte der Bevölkerung ernsthaft zu glauben scheint, die Erde sei nur ein paar Tausend Jahre alt, weil das ihre Interpretation des Bibeltextes ist.
Ich glaube das ist keine "Phase", und sie ist auch noch nicht überwunden, sondern die Sache kann ganz schnell und mit voller Macht wieder ausbrechen. Auch im Christentum. Die Hardliner existieren und werden keine Zeit verlieren, ihren Einfluß geltend zu machen, sobald sie eine Chance sehen.
Das ist eben mein Problem: "Aufgeklärte" Christen haben keine Mühe, einem zu versichern daß das mit der Hölle, der ewigen Verdammnis und so weiter nicht so wörtlich aufzufassen sei. Aber die heiligen Texte bleiben so wie sie sind, auch die offizielle Kirchenlehre schafft diese nützlichen Angstmacher nicht ab, und alle tun so als könnte man das Problem durch ein bißchen demonstrativer Sanftmut aus der Welt schaffen. Ich halte das für Heuchelei, das Problem wird wegerklärt statt beseitigt. Wir werden uns noch wundern wie schnell das wieder auf dem Tisch liegt.
Man braucht sich bloß mal ansehen, wie das in den weiter östlich gelegenen Ländern gelaufen ist. Polen, Ungarn, etc. haben eine ziemlich heftige religiöse "Wiedergeburt" erlebt, und die Folgen sind nicht lustig.