Ich habe mir den Höcke reingezogen. Nachdem die ganze Zeit in allen Medien drüber hyperventiliert wurde, hatte ich das Bedürfnis mir das in Gänze selber anzusehen (eine Textversion gibt's hier). Es hat sich gelohnt. Mir ist nun aus eigener Anschauung klar, daß Höcke ein Nazi ist. Ich kann seinen Auftritt nicht anders werten. Der Mann weiß was er sagt und wie er es interpretiert haben will.
Genauso interessant fand ich aber auch das Publikum. Das paßt dazu wie die Faust auf's Auge. Die machen auch keinen Hehl daraus wo sie gesinnungsmäßig stehen. Das Verhalten ist mehr Mob als Volk, man hat den Eindruck daß sie geradezu darauf warten, eine Grenzüberschreitung zu begehen, jemandem etwas anzutun, der ihnen in die Quere kommt.
Und das soll repräsentativ sein für das deutsche Volk? Welche Anmaßung, sich dafür auch noch als Avantgarde in Szene zu setzen!
Ich verstehe auch nicht wie man sich als Politiker in Deutschland so lahmarschig dagegen stellen kann. In den Medien ist von "scharfer Kritik" die Rede, aber selten schafft es einmal jemand, eine klare Alternativ-Vision dagegen zu stellen. Im Grunde wird damit Höcke sogar recht gegeben, der das Fehlen einer Vision beklagt. Wir brauchen tatsächlich eine Vision, wohin wir mit unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, unserer Welt wollen. Empörung ist noch keine Vision, selbst wenn sie berechtigt ist. So werden wir nicht gegen die Neonazis ankommen.
Der zentrale Punkt einer Vision, wie sie mir vorschweben würde, ist die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen. Es ist die Idee allgemeiner Menschenrechte. Diese Idee ist diametral entgegengesetzt einer völkischen Vorstellung. Es geht darum, ob man eine Ideologie der Verbindung und Versöhnung, oder eine Ideologie der Abgrenzung und Abwertung vertritt. Ich bin der Meinung, daß diese Frage so grundsätzlich ist wie sie nur sein kann. Bin ich der natürliche Freund, oder der natürliche Feind der anderen Menschen? Geht es im Leben um Kooperation oder um Kampf? Treiben wir Handel oder betreiben wir Krieg?
In vorigen Artikeln hier habe ich mich um die Religionen gekümmert, und unter Anderem gezeigt wie sie ganz explizit die Abgrenzung und auch die Abwertung der Anderen betreiben. Hier geht es mir um völkische Vorstellungen und Ideologien, wie sie Höcke vertritt. Auch wenn diese üblicherweise nicht unter religiösem Vorzeichen gesehen werden, sehe ich da ganz ähnliche Vorstellungen am Werk. Mir ist es ziemlich egal ob sich eine Gruppe abgrenzt und andere abwertet aus religiösen Motiven oder aus völkischen Motiven. Ich denke die unterbewußte Triebfeder ist oft dieselbe, und die beiden Motive können sich mühelos miteinander verbinden.
Hier wie dort steht die Treue bzw. der Verrat als Denkschema ganz oben. In beiden Fällen wird auf Abweichler ähnlich rigoros reagiert. Es geht nicht um "wahr oder falsch", sondern um "mit uns oder gegen uns". Irgendwelche Wahrheitsphantasien und -sprüche, wie sie auch von Höcke kommen, sollten darüber nicht hinweg täuschen. Wahrheit ist das allerletzte worum es hier geht.
Was ist denn das Volk? Das "liebe Volk" wie es Höcke fast zärtlich nennt, ganz ähnlich wie Christen gerne vom "lieben Gott" reden. Was bewirkt, daß ich zu diesem Volk dazu gehöre? Je mehr Gedanken ich mir dazu mache, desto unklarer wird es. Genauso geht es mir mit dem Vaterland. Was ist mein Vaterland? Welche Grenzen hat es? Was liebe ich eigentlich, wenn ich mein Vaterland liebe? Was liebt Höcke?
Ich bin in einem Dorf in Württemberg geboren, sogar im Hause meiner Eltern. Ich kann also sagen, daß das kleine Stück Land, auf dem ich geboren bin, meinem Vater tatsächlich gehört hat. Eingetragen im Grundbuch. Ist das mein Vaterland? So hätte das durchaus Sinn und wäre auch klar abgrenzbar, aber das meint Höcke ganz bestimmt nicht. Das "Bundesland" heißt damals wie heute "Baden-Württemberg", also könnte das mein Vaterland sein, aber da wird es schon problematischer, weil zu der Zeit, als mein Vater geboren wurde, das Bundesland in dieser Form noch nicht existiert hat. Zu Zeit seiner Geburt wurde das Land Württemberg gerade von den Nazis gleichgeschaltet, es ist dann schließlich im Dritten Reich aufgegangen. Mein Vaterland (im Sinne von "Geburtsland meines Vaters") könnte also entweder das alte Württemberg, oder das Dritte Reich sein. Oder ist mein Vaterland die Bundesrepublik Deutschland? Wenn ja, in welchen Grenzen? Als ich geboren wurde gehörten die "neuen Bundesländer" noch nicht dazu. Das Saarland war aber immerhin schon beigetreten.
Meinem eigenen Gefühl würde es eher entsprechen, von Europa als meinem "Vaterland" zu reden, besonders wenn ich als Kriterium dafür nehme was ich "liebe". Ich fühle mich den Schweizern emotional näher als den Sachsen (was ja auch geografisch passt), und ich spüre eine gewisse Affinität sowohl zu den Briten als auch zu den Spaniern. Generell finde ich es grandios, wie sehr wir in der Welt zusammen gewachsen sind, und wie einfach es geworden ist, Freunde auch auf anderen Kontinenten zu finden. Schon die Idee, über einen diffusen Volksbegriff irgendwelche Grenzen hochzuziehen geht mir gewaltig gegen den Strich, besonders wenn dem auch (grenzbildende) Taten folgen.
Woran macht Höcke seinen Vaterlandsbegriff fest? Was lieben denn die Pegida-Leute wenn sie von "Vaterlandsliebe" reden? Es bleibt ziemlich im Ungefähren. Muß es ja auch, denn es gibt schlicht keine sinnvolle Definition von "Volk" oder von "Vaterland", die nicht von vorn herein willkürlich wäre. Für Höcke scheint klar zu sein daß Dresden zum Vaterland dazu gehört, daß die Leute zu denen er redet zum "Volk" dazu gehören, das behaupten sie schließlich zu jeder unpassenden Gelegenheit selber. Für mich ist das nicht klar. Im Gegenteil, wenn ich mir das ansehe will ich gerade nicht dazugehören. Von Liebe ist da keine Spur.
Dabei würde ich wohl alle formalen Kriterien erfüllen, von denen ich vermute daß Höcke sie im Sinn hat. Neben der oben schon erwähnten Stelle an der ich geboren wurde kommt dazu daß ich deutsch spreche (was ich als Schwabe erst in der Schule lernen mußte), daß mein Stammbaum bis recht weit zurück ebenfalls aus Deutschen irgendwelcher Definition besteht (was man heute anscheinend "biodeutsch" nennt, was immer das genau bedeuten möge), und daß ich die deutsche Staatsbürgerschaft besitze. Ich habe auch keine Erkenntnisse daß unter meinen Vorfahren jemand Jude war, was eventuell für Höcke ein wichtiges Kriterium wäre, so genau weiß ich das nicht.
Das bringt mich im Vorbeigehen auf die Frage, ob jüdische Vorfahren mit der Eigenschaft im Konflikt stehen, biodeutsch zu sein. Ab wann genau ist man biodeutsch? Ich bin Informatiker, kann mir also jemand einen Algorithmus nennen, in den man den Stammbaum (und wenn's sein muß weitere Informationen) hinein füttert, und heraus kommt ob man Biodeutscher ist? Reicht es wenn ich ein halbes Leben lang deutsches Sauerkraut esse, weil dann die meisten meiner Körpermoleküle deutsch sind? Oder gibt's einen Gentest dafür? Wenn sich dabei heraus stellt, daß ein paar Römergene von vor 2000 Jahren dabei sind, ist dann mein Biodeutschtum in Gefahr? Könnte durchaus sein, denn ich bin nicht blond.
Vielleicht ist inzwischen hinreichend klar geworden, daß ich die Begriffe "Volk" und "Vaterland" für willkürlich, sinnlos und bescheuert halte. Diese Begriffe sind mit Vorstellungen verbunden, die keine Basis in der Realität haben. Auch wir Deutschen, so wie alle anderen "Völker", sind nie ein einheitliches und klar abgrenzbares Volk gewesen, noch haben wir ein klar abgrenzbares Vaterland gehabt. Diese Begriffe sind eine Erfindung, deren einziger Zweck es ist, eine künstliche Trennlinie zu schaffen für die es keine sinnvolle Rechtfertigung gibt.
Ebenso ist es mit der Bezugnahme auf die deutschen Geistesgrößen, die Höcke der nachwachsenden Generation als Vorbilder anempfiehlt. Er nennt hier keine Namen, ich bin also auf Vermutungen angewiesen, wen er gemeint haben könnte. Es könnte natürlich im Extremfall bei ihm auch Hitler dazu gehören, es ist nicht ganz abwegig, das zu vermuten, siehe weiter unten. Er redete von "den großen Wohltätern, den bekannten weltbewegenden Philosophen, den
Musikern, den genialen Entdeckern und Erfindern [...],
von denen wir ja so viele haben" und verweist auf seinen Vorredner Markus Mohr aus Aachen, der seit voriges Jahr von der AfD ausgeschlossen werden soll (ist auf obigem Link ebenfalls zu hören, einfach zurückspulen), der ein paar Namen genannt hatte, im Kontext einer bemerkenswerten Begründung seines Volksbegriffes, die auf das 19. Jahrhundert zurückgreift, in dem sich seiner Darstellung nach die weiße Überlegenheit manifestierte. Guckt Euch das an (etwa ab Minute 28:50), ich finde das eher noch widerlicher als was Höcke da zum Besten gibt. Achtet speziell darauf wie selektiv er da argumentiert, es ist fast wichtiger was er nicht erwähnt als das was er erwähnt. (Er bringt es zum Beispiel fertig, den deutschen Sozialstaat Bismarck'scher Zeiten zu loben, ohne ein einziges Mal die Sozialdemokratie zu erwähnen, und er tut so als wäre heutiger "Faustrecht"-Kapitalismus eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts).
Mohr nennt folgende Namen als Beispiele deutscher Vorbilder: Röntgen, Koch, Hoffmann, Planck, Daimler, Diesel, Siemens und Bosch. Das sind nur Entdecker und Industrielle, keine Musiker oder Philosophen, aber schon hier erkennt man wo der Hase lang läuft. Für mich besonders hervorstechend ist die Auslassung von Albert Einstein. Der ist zwar einer der bedeutendsten Physiker aller Zeiten, aber für völkische Propaganda denkbar ungeeignet. Für mich ist er Vorbild par Excellence, weit mehr als die Wissenschaftler in Mohr's Aufzählung. Für Mohr anscheinend eher nicht. Ich denke ich weiß warum:
Einstein war zwar gebürtiger Deutscher, aber seine Eltern waren deutsche Juden. Im Verlauf seines Lebens war Einstein Staatsbürger von insgesamt 4 Staaten, neben Deutschland war das die Schweiz, Österreich und die USA. Ein paar Jahre lang war er sogar staatenlos. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat er wegen der Nazis ausdrücklich abgegeben. Für Volksideologen ist er damit ein Problem. Am einfachsten haben es noch die Judenhasser unter ihnen, denn die können unabhängig von Geburt und Staatsbürgerschaft immer auf seine Abstammung verweisen, aber selbst wenn das bei Mohr nicht der entscheidende Faktor sein sollte (ich bin da mal vorsichtig), stellt sich immer noch die Frage was für ihn das Ausschlußkriterium war. Es muß ein Ausschlußkriterium für Mohr geben, denn sonst wird Einstein ja auch für alles Mögliche als Galionsfigur hergenommen, und Mohr hätte nicht auf vergleichsweise unbekanntere Namen zurückgreifen müssen. Wenn es nicht die jüdische Herkunft war, dann wird es wohl die Zurückweisung der deutschen Staatsbürgerschaft gewesen sein, die für einen Volksideologen einem Verrat gleichkommen muß. Aber an dieser Stelle müßte man anfangen, sich mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinander zu setzen, und das fürchten offensichtlich sowohl Mohr wie auch Höcke wie der Teufel das Weihwasser (so weit ich das als Atheist so sagen darf).
Es zeigt sich wie widersinnig und widerwärtig diese Volksideologie sich unweigerlich darstellt sobald man das Gehirn einschaltet. Was hat eine wie auch immer definierte Volkszugehörigkeit mit wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen oder geistigen Leistungen zu tun? Es zeigt sich doch gerade im Gegenteil, daß diese Kulturleistungen jede Volksgrenze und jede Vaterlandsgrenze überspannen und ignorieren. Schon im 19. Jahrhundert war Wissenschaft eine internationale Angelegenheit, wo man über alle Grenzen hinweg miteinander korrespondiert hat, kooperiert hat, gegeneinander konkurriert hat, und auch Personal ausgetauscht hat. Umso mehr noch ist das heute der Fall. Nehmt das CERN bei Genf als Beispiel. Jede völkische Ideologie ist ein Schlag ins Gesicht jedes Einzelnen der Mitarbeiter dort. Es ist eine Verhöhnung von allem was die Wissenschaft heutzutage ausmacht.
Es ist nicht besser bei anderen Kulturleistungen. Nehmen wir z.B. die Literatur. Schon seit Jahrhunderten lesen wir die Werke ausländischer Autoren genauso wie der deutschen Autoren, und lassen uns von ihnen inspirieren. Ist etwa an Goethe irgend etwas besser als an Shakespeare? Weswegen sollte ich stolzer auf den einen als auf den anderen sein? Und wenn es aktuelle Autoren sein sollen: Ich bin glücklich daß wir Autoren wie z.B. Navid Kermani haben. Der ist ein in Deutschland geborenes Kind iranischer Einwanderer, ein Moslem, verheiratet mit einer halbiranischen Islamwissenschaftlerin, und er ist ein herausragender Autor, der der deutschen Sprache mächtiger ist als die allermeisten AfDler, vom geistigen Horizont ganz zu schweigen. Wenn ich schon auf Goethe stolz sein soll, dann möchte ich auch auf Kermani stolz sein dürfen. Wenn ich 10 Kermanis haben könnte würde ich dafür 1000 AfDler zum Mond schießen, und den Saldo als Gewinn verbuchen. Und das sage ich als überzeugter Atheist.
Überhaupt der Stolz. Warum ist man auf Dinge oder Leute stolz, für die man rein gar nichts kann, bzw. zu denen man keinerlei Beitrag geleistet hat? Kommt mir seltsam vor. Was bedeutet es, wenn ich auf Goethe stolz bin? Ist das nicht sinnlos? Ich bin froh, daß es ihn gab, aber es ist mir ziemlich egal ob er Deutscher war oder nicht. Bei Einstein spielt das ja auch keine Rolle, seine Leistung ist so oder so immer die gleiche. Warum kann ich mich nicht genauso wie mit Goethe auch mit Tolstoi, Shakespeare, de Montaigne, Dante oder gerne auch Lao Tse identifizieren? Man hat von allen denen einen Gewinn, wenn man sich mit ihnen beschäftigt. Manchmal kommt es mir so vor als wären gerade diejenigen am interessantesten, die sich nicht einfach in ein völkisches Schema pressen lassen.
Bei der Musik ist es beinahe noch eindeutiger zu sehen, vielleicht weil die Musik eine ganz eigene Sprache ist, die die gesprochene Sprache transzendiert. Ich brauche gar nichts dazu auszuführen, überlegt Euch einfach selber was eine völkische Einteilung und Abgrenzung gerade der heutigen Musik antun würde. Es wäre schlicht absurd, eine Gewalttat an der Kunst.
Wann immer die völkischen Ideologen die Kulturleistungen in ihr eigenes Raster einspannen wollten, war das Ergebnis ein Gemetzel, und eine geistige Verödung. Für ignorante AfDler: Ja, das war ein versteckter Hinweis auf die Nazizeit. Ich finde wirklich nicht daß es zur Zierde gereicht wenn man dieses Thema ausblendet. Ich könnte das weitaus drastischer ausdrücken, aber das muß ich wohl gar nicht.
Das hat alles nichts mit der Vision zu tun, die heute not täte. Unsere Kultur ist global, und es führt kein sinnvoller Weg zurück. Die Probleme unserer heutigen Welt sind beträchtlich, aber der Weg zu einer Lösung kann nur vorwärts führen. Wir brauchen Leute, die Zusammenhänge und Verbindungen sehen und schaffen, und nicht solche, die Grenzen und Überlegenheitsillusionen konstruieren. Es gibt nur ein Volk: Die Menschheit.
Ich bin gleichermaßen Schwabe, Deutscher, Europäer und Weltbürger. Alle diese Zugehörigkeiten bestehen nebeneinander und gleichberechtigt. Ich sehe nicht ein warum eine davon wichtiger sein sollte als eine andere. Meine Loyalitäten gelten nicht einer Landkarte, sondern sie gelten ein paar Grundsätzen, die ich für wichtig halte. Das "Volk", das ich "liebe", ist das Volk der aufgeklärten Humanisten, der freiheitsliebenden, wahrheitsliebenden Toleranten. Manche würden sagen der linksgrün-versifften Halligalli-Multikulti-Gutmenschen, aber das können sie sich in den Arsch schieben. Mein "Volk" basiert auf Überzeugungen und Werten, nicht auf Haarfarben, Stammbäumen und Überlegenheitsphantasien.
Wenn es gelänge, ein funktionierendes Europa als ein Art von föderal organisiertem Staatswesen zu schaffen, in dem glaubwürdig demokratische Verhältnisse herrschen, dann hätte ich nicht das geringste Problem damit, Deutschland darin aufgehen zu lassen. Deutschland hätte dann seinen Zweck erfüllt, und könnte sich in Ehren zur Ruhe setzen, bzw. in die Geschichte eingehen. Den deutschen Teil seiner Identität bräuchte deswegen niemand aufzugeben, und es wäre auch nicht das was Höcke "Selbstauflösung" nennt. Ich finde es lohnt sich immer noch, darauf hinzuwirken, denn ich glaube nicht daß Europa ein prinzipielles Problem hat. Ich glaube eher es ist ein Problem politischer und gesellschaftlicher Kleinkariertheit.
Wenn ein völkisch verstandenes Deutschland, so wie es Höcke offenbar im Kopf herum geistert, wirklich so einfach aufzulösen wäre wie ein Stück Seife, dann würde ich mich glücklich schätzen, meinen lauwarmen Wasserstrahl dafür zur Verfügung stellen zu dürfen.
Nur, leider, so einfach wird es nicht sein. Erst einmal werden wir Europa reparieren müssen. Die Grundidee ist gut, aber wir brauchen weniger nationale Egoismen und Kleinkariertheit. Jedes Land sollte nicht bloß daran interessiert sein, was für es selbst dabei heraus springt, sondern daran, was für Europa im Ganzen gut ist. Und das sollte auch nicht so verstanden werden, daß es gegen andere, außereuropäische Staaten und Regionen gerichtet ist, sondern daß es der Zusammenarbeit und dem Interessenausgleich verpflichtet ist. Dafür muß man die Länder tiefer hängen, und Europa höher. Das bedeutet mehr direkte Demokratie in Europa, und weniger Kungel-Gipfel zwischen den Regierungschefs. Mehr Parlament und weniger Rat.
Ich verstehe nicht recht warum ausgerechnet Höcke's Satz über das Holocaust-Denkmal so eine große Empörung ausgelöst hat. An dem was er sagte gibt's vieles, worüber man sich mindestens ebenso aufregen kann. Natürlich ist das ein Denkmal der Schande. Es wurde errichtet, um eine der schwärzesten, unmenschlichsten Seiten der deutschen Geschichte (und der Geschichte überhaupt) in Erinnerung zu rufen. Es zeugt von Größe, und gereicht Deutschland zur Ehre, daß es ein solches Denkmal errichtet hat. Wir haben erst vor Kurzem anläßlich der Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern in der Türkei gesehen, wie schwer sich andere Länder mit so etwas tun, und wie dadurch die Bewältigung so eines Traumas in die Länge gezogen wird, gerade auch für die Betroffenen und ihre Nachfahren.
Höcke scheint es eher so halten zu wollen wie die türkische Regierung es in diesem Fall vormacht. Ich halte das für ein jämmerliches und kleingeistiges Verleugnen historischer Tatsachen, für etwas das nicht nur die Opfer beleidigt, sondern die Wahrheit selbst verhöhnt, und alle Bürger, denen die Wahrheit etwas bedeutet. Zur Geschichte eines Landes gehören auch seine dunklen Seiten, und sich diese immer wieder ins Gedächtnis zu rufen ist keine hinderliche Selbstkasteiung, sondern eine notwendige Voraussetzung für einen verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Rolle in der Welt.
Ich verstehe auch nicht wie man auf die Idee kommen kann, diese Art der Vergangenheitsbewältigung lähme ein Volk. Wenn ich auf die Zeit zurück blicke, die ich selber bewußt mitgekriegt habe, dann kann ich keine solche Lähmung erkennen, obwohl das Thema Drittes Reich und Holocaust regelmäßig in der Diskussion war. Im Gegenteil, ich bin der Überzeugung daß die Beschäftigung mit diesem Thema Deutschland erheblich weiter gebracht hat. Diese Auseinandersetzung hat Deutschland aus meiner Sicht in praktisch jeder Hinsicht genutzt. Deutschland ist in dieser Zeit im internationalen Ansehen erheblich gestiegen, und zwar in einem staunenswerten Ausmaß angesichts des verheerenden zweiten Weltkrieges und des Holocaust.
Diese Erinnerungskultur, die Höcke am liebsten um 180 Grad wenden würde, ist ein absolutes Erfolgsmodell, und ich kann anderen Ländern nur empfehlen, sich ebenfalls Denkmale ihrer eigenen Schande zu errichten. Zum Beispiel Türkei: Ein Denkmal der Schande der Armenierverfolgung mitten in Ankara, damit würde die Türkei nicht erniedrigt, sondern erhöht.
Das einzige was solche Diskussionen und solche Denkmäler behindern ist das, was sie auch behindern sollen, nämlich das Vergessen. Die Geschichte eines jeden Landes besteht aus guten und schlechten Teilen, aus Wohltaten und aus Verbrechen. Nur wer beides im Blick hat, kann auch eine realistische Sebsteinschätzung gewinnen. Das Ausblenden des unangenehmen Teils der eigenen Geschichte ist immer eine Fälschung.
Diese Fälschung ist bei Höcke klar zu erkennen. Seine Darstellung der Geschichte konstruiert ein reines Opferszenario, ohne jeden Hinweis auf eine deutsche Verantwortung für das was da geschah. Er pickt sich die Bombardierung Dresdens heraus als Beispiel, um diese Opferlegende zu konstruieren. Auch wenn man mit ihm der Meinung sein sollte, daß es sich dabei um ein alliiertes Kriegsverbrechen gehandelt hat, fällt doch auf daß der einzige Satz, mit dem er versucht, das in einen größeren Zusammenhang zu stellen, der Vergleich mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki ist. Spätestens an dieser Stelle ist die demagogische Absicht nicht mehr zu übersehen. Hätte er eine etwas verantwortungsvollere Einordnung angestrebt, dann hätte er z.B. das deutsche Kriegsverbrechen der Belagerung von Leningrad dagegen stellen können. Ich überlasse es Euch, sich ein Bild zu verschaffen wie dieser Vergleich ausgesehen hätte.
Krasser noch wird Höcke, wenn er die Bombardierung von Dresden als Versuch wertet, den Deutschen ihre Identität und ihre Wurzeln zu rauben. Davon kann keine Rede sein, und abgesehen davon daß es eine ungeheuerliche Verleumdung der Alliierten ist, die in vielen Fällen deutsches Kulturgut im Krieg bewußt geschont haben, und nach dem Krieg Deutschland großzügig wieder auf die Beine gebracht haben, ist es der Versuch, das was die Nazis, also die Deutschen, betrieben haben, was ein Hauptmotiv des Krieges war, nämlich die Vernichtung anderer Völker, den Alliierten zu unterstellen. Für mich ist dieser Teil die empörendste von allen Lügen, die Höcke an diesem Tag verbreitet hat. Es ist auch der Teil an dem am klarsten wird, daß er die Nazis rehabilitieren will.
Ich mag mir gar nicht vorstellen, was genau er meint wenn er von den "großartigen Leistungen der Altvorderen" redet, an die wir uns lebendig erinnern sollen. Es werden wohl kaum nur Goethe und Schiller sein. So wie er redet meint er wahrscheinlich die Nazis.
Solche Leute wie Höcke oder Mohr werden die deutsche oder europäische Kultur nicht retten, sie werden sie vernichten. Am Ende wird wieder ein rauchender Trümmerhaufen stehen, wenn wir dem nicht vorher Einhalt gebieten.
Wir sitzen alle im gleichen Boot mit Namen "Erde", und wir werden alle miteinander untergehen, wenn wir das nicht begreifen. Das ist keine "One-World-Ideologie", das ist ganz einfach die Realität.
Sonntag, 29. Januar 2017
Sonntag, 22. Januar 2017
Spioninnen
Lassen wir uns von Frauen mehr gefallen als von Männern? Die Marketingabteilungen der großen Unternehmen scheinen das zu glauben, und die werden es wohl wissen.
Seit Apple mit Siri vor gut 5 Jahren die Spracherkennung in den iPhones integriert hat, taufte fast jede Firma ihre Spracherkennungstechnologie mit weiblichen Vornamen. Bei Microsoft redet man mit Cortana, und bei Amazon gibt's inzwischen Alexa. Nur bei Google hört man auf den neutralen Ruf "Ok Google". Schon zuvor fiel mir auf, daß die Stimme irgendwelcher elektronischen Dienste fast immer weiblich ist, egal ob es das Navi ist, oder die Stimme des automatischen Telefonservice, oder die blöde Automatentante, die mich anruft, um mir dann "Herzlichen Glückwunsch" in's Ohr zu plärren. Es erhärtet sich die Erkenntnis: Technische Versuche, menschlich zu wirken, sind überwiegend weiblich.
Ich gebe zu, daß mich Cortana von Microsoft gleich von Anfang an genervt hat. Ich bin Computer-Mensch seit ich Teenie war, und das war noch in den 70ern, also deutlich bevor die Welt mit dem IBM-PC beschenkt wurde. Und hier kommt ein Mädel daher und will mir meinen PC erklären, ja drängt sich geradezu auf. Wenn das keine Kränkung ist! Besonders wenn man dann schnell merkt, daß sie keine Ahnung hat, und auch nichts anderes macht als für mich zu googeln (oder "bingen"). Sorry Mädel, das kann ich auch selber, vielen Dank! Ich habe sie rausgeschmissen.
Ich will hier aber nicht in Maskulismus schwelgen. Diese Beispiele deuten auf ein tiefer liegendes Muster hin, auf eine Masche, die durchaus erfolgreich zu sein scheint. Assistenten jedweder Art sind der letzte Schrei, und die brauchen nicht nur eine Stimme und einen (weiblichen) Namen, sondern insbesondere auch Spracherkennung bzw. Sprachsteuerung. Und Sprachsteuerung braucht ein Gerät, das immer zuhört. Wenn es gut funktioniert, ist es superpraktisch. Wir erleben gerade wie sich das in den Alltag integriert.
Es ist aber auch supergefährlich. Und hier haben wir ein Problem: In den letzten 10 Jahren hat sich noch jede Technik, die superpraktisch ist, in Windeseile durchgesetzt, egal wie gefährlich sie ist. Ich habe keinen Zweifel daß es mit der Sprachsteuerung ebenso ist. Ich glaube aber daß wir damit letztlich die Privatheit, und somit die Macht über uns selber aus der Hand geben. Wenn Ihr jetzt schon wieder abwinkt, wenn Ihr denkt "wieder so ein langweiliger Alarmist", und "was soll denn schon passieren, ging doch auch bisher gut", dann braucht Ihr nicht weiter zu lesen. Ich will bloß diejenigen erreichen, die auch erreicht werden wollen. Und ich werde keine Handlungsanweisungen geben, ich will bloß zum Nachdenken anregen über Dinge, über die vielleicht der Einzelne nicht genug nachgedenkt bevor er handelt.
Die Spracherkennung ist gar nicht das Problem. Das Problem ist Spracherkennung in Verbindung mit Vernetzung. Darin liegt aber gleichzeitig auch der größte Nutzen. Um deutlich zu machen wie ich das meine, schauen wir uns erst einmal an was denn in der Praxis schon jetzt (eingeschränkt) oder in naher Zukunft (immer besser) gehen wird:
Irgendein Gerät in unserer Nähe (oder sogar mehrere davon) wird ständig mithören, was wir sagen. Es wird verstehen was wir sagen, und versuchen, daraus Informationen zu gewinnen. So kann man Aktionen auslösen, wie z.B. das Abspielen von Musik oder die Wahl eines Programms im Radio oder Fernsehen. Oder die Steuerung von Licht oder Heizung. Das Öffnen der Tür. Den Kauf eines Produkts im Internet. Das Tätigen von Bankgeschäften.
Wer ein Auto hat, das selber fahren kann, könnte auch sein Auto auf diese Weise steuern. Man könnte das Garagentor öffnen, das Auto vorheizen und vor die Tür fahren lassen, während man gerade aus der Dusche tritt, die man natürlich ebenfalls sprachsteuern kann. Auf dem Weg nach draußen kann man noch den automatischen Staubsauger beauftragen, sich die anstehenden Aufgaben aus dem persönlichen Kalender aufsagen lassen und die Alarmanlage scharf schalten. Alles einfach mit der eigenen Stimme.
Das alles geht wenn die entsprechenden Geräte miteinander und mit dem Internet verbunden sind. Es ist das Internet der Dinge (IoT).
Dabei sollte man sich bewußt machen, daß die Spracherkennung selbst ebenfalls im Netzwerk stattfindet. Es ist keine Funktion, das ein Gerät autonom ausführt. Der Hersteller und Dienstanbieter will davon ebenfalls etwas haben. Einmal um die Qualität der Spracherkennung kontinuierlich zu verbessern. Aber noch wichtiger auch um immer mehr über die Nutzer zu erfahren. Damit kann man viel Geld verdienen. Jeder sollte davon ausgehen, daß alles was er im Beisein eines solchen Geräts sagt, ob es mit dem Gerät etwas zu tun hat oder nicht, seinen Weg zum Hersteller findet. Jedes solche Gerät ist eine Wanze.
Es ist noch weit mehr als eine Wanze. Bei einer klassischen Wanze gab es auf der anderen Seite genau eine Instanz, die abgehört hat. In aller Regel war das ein Geheimdienst. Das konnte den meisten normalen Leuten ziemlich gleichgültig sein, denn normale Leute kommen selten ins Fadenkreuz von Geheimdiensten. Zudem war diese Form von Abhören teuer genug um es sparsam anzuwenden. Das ist heute völlig anders. Die IoT-Wanzen bezahlt der Abgehörte, der auch freiwillig dafür sorgt daß sie immer an sind. Und die abgehörten Daten werden von einer Dienstleistungsfirma kontinuierlich ausgewertet, so daß man das fertig ausgewertete Ergebnis als interessierte Partei vom Dienstleister kaufen kann. Der Endeffekt ist, daß praktisch jedermann ständig und überall abgehört wird, und daß man fertig ausgewertete Daten auch im Nachhinein von praktisch jedermann abrufen kann, wenn man den Dienstleister dafür bezahlen kann, oder wenn man ihn zur Herausgabe der Daten verdonnern kann.
Die Konsequenzen für die staatliche Strafverfolgung sind vielleicht die, die Euch als Erstes in den Kopf kommen. Damit kann man je nach Perspektive auch am leichtesten einverstanden sein. Viele Leute scheinen ja immer noch der Meinung zu sein, sie hätten nichts zu verbergen, und gerade die staatlichen Verbrechensbekämpfer dürften alles wissen. Eine aus meiner Sicht unfassbar naïve Haltung, weil sie davon ausgeht, daß der Staat keine Fehler macht und immer auf Seiten der Bürger steht, aber immerhin ist das angesichts der vorhandenen Bedrohungen der inneren Sicherheit noch ein klein wenig nachvollziehbar.
Aber selbst wenn man diese naïve Haltung hat, kann einem kaum wohl dabei sein, wenn man sich überlegt wer sonst noch Zugriff auf diese Daten hat, oder bekommen könnte. Schon die Firmen, die diese Daten sammeln, wie Google, Amazon, Apple, Microsoft und so weiter, tun das um Euch möglichst gut kennenzulernen. Erstens können sie Euch dann gezielt Dinge verkaufen. Das ist nicht unbedingt so gut wie es sich anhört, denn in letzter Konsequenz wollen sie damit Euch eine personalisierte Filterblase bauen, also Eure Wahrnehmung steuern, um Euch nicht bloß ganz bestimmte Produkte verkaufen zu können, sondern auch den Preis dafür zu optimieren. Sie wissen irgendwann nicht nur was man Euch verkaufen könnte, sondern auch wieviel Ihr dafür zu bezahlen bereit seid. Glaubt nicht daß das zu Eurem Vorteil gerät.
Aber auch andere Firmen wollen diese Daten haben, und sind bereit sie von den genannten Dienstleistungsfirmen zu kaufen. Denkt nur mal darüber nach wie interessant alle diese Informationen für Versicherungen sind, die ihr Risiko einzuschätzen versuchen. Oder Banken, von denen Ihr einen Kredit wollt. Oder Arbeitgeber, bei denen Ihr arbeiten wollt. In dem Moment, wo Ihr von der Versicherung oder Bank oder vom Arbeitgeber etwas wollt, ist es zu spät. Die Informationen sind schon draußen. Dann wird es nichts nützen, nachträglich etwas löschen zu wollen, oder nachforschen zu wollen wie ein unbequemes und vielleicht überraschendes "Rating" zustande gekommen ist.
Und schließlich sind auch die Bösewichte dieser Welt an den Daten interessiert. In bargeldlosen Zeiten wird man vielleicht nicht mehr in eine Wohnung einbrechen wollen, in der Hoffnung dort Geld zu finden, aber es wird immer noch genügend Wertgegenstände geben, die man heraus holen kann. Wenn nicht, dann könnte man sich Türschlösser und Alarmanlagen auch sparen. Was die Diebe brauchen, ist Information darüber wann die Chancen für einen Einbruch am besten stehen. Und am besten auch die Möglichkeit, die Türen ohne Alarm und ohne Gewalt zu öffnen. Dafür ist das IoT geradezu ideal. Wenn man da mal eingebrochen ist, dann hat man Zugriff auf alle Funktionen. Womöglich sogar mit Sprachsteuerung. Viele Systeme scheinen nicht so wählerisch zu sein wer da mit ihnen spricht. Zu wählerisch würde ja bedeuten, daß es öfter nicht funktioniert, und wir wissen ja alle daß das Wichtigste ist daß die Sache gut und bequem funktioniert. Das war immer so: Es setzen sich die bequemen Systeme durch, nicht die sicheren. Wenn sich Bequemlichkeit und Sicherheit widersprechen, dann wird der Kompromiß immer zu Lasten der Sicherheit ausfallen. Das ist nicht die Schuld der Hersteller, so wollen es die Kunden.
Und der physische Einbruch ist noch das harmlosesete der Szenarien, denn dazu muß sich immer noch jemand zur Wohnung hin bewegen. Attraktiver sind Delikte, die sich gänzlich aus der Ferne bewerkstelligen lassen. Wenn die sprachgesteuerten Geräte selber Bestellungen und Bankgeschäfte ausführen können, dann ist das ideal für Kriminelle. Die können das vom Ausland aus tun, und können sich so außerhalb der Reichweite der hiesigen Gesetze und Gesetzeshüter bewegen.
Auch das ist noch nicht alles. Eine solche Vielfalt vernetzter Geräte kann man sich auch noch zu anderen Zwecken zunutze machen. Es hat in den letzten Monaten bekanntlich mehrere Fälle gegeben, wo verwundbare Geräte von ganz normalen Verbrauchern durch Cyberkriminelle gekapert wurden, um sie zu "Soldaten" in einer Art Cyberkrieg zu machen. Nichts anderes sind die sogenannten Botnetze, die aus Tausenden oder gar Millionen gekaperter Geräte bestehen, die man quasi auf Knopfdruck von irgendwo auf der Welt aus zum Angriff bringen kann. Der Besitzer eines gekaperten Geräts braucht davon gar nichts mitzukriegen, weil für ihn alles weiterhin funktioniert. Sein Gerät ist das elektronische Äquivalent eines "Schläfers". Der weithin in den Medien diskutierte Ausfall von Routern der Telekom letzten November ist nur deswegen so aufgefallen, weil das Kapern in diesem Fall schief gegangen war. Die Telekom-Geräte waren gar nicht das Ziel des Kaper-Versuchs, sondern haben allergisch auf den damit verbundenen Datenverkehr reagiert. Die Geräte, die in diesem Fall gekapert werden sollten, waren ganz andere, und bei denen hat der Versuch wohl auch funktioniert. Nur stehen die nicht in Deutschland, sondern z.B. in Irland und in Brasilien. Also kein Grund sich beruhigt zurück zu lehnen.
Jetzt kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, daß einem das egal sein kann ob sein Gerät als Soldat in einem Botnetz eingespannt wird, solange alles funktioniert. Das ist verständlich speziell wenn man sich damit sowieso nicht auskennt, und nicht darüber nachdenkt was daraus folgen könnte. Es kann aber übel zurückschlagen. Wenn die Botnetze dafür benutzt werden, die öffentliche Infrastruktur anzugreifen, von der man selbst abhängt, also Strom, Wasser, Telekommunikation, Verkehr etc., dann ist das nicht mehr ganz so lustig. Will man wirklich freiwillig Gegner der eigenen Staatsordnung mit Waffen versorgen, nur aus eigener Bequemlichkeit? Ist das nicht ein kleines bißchen so als würde man den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen, und es dadurch einfach für einen Extremisten machen seinen LKW für einen Angriff zu benutzen?
Die meisten Leute wissen natürlich inzwischen, wenigstens im Prinzip, welche Risiken das alles hat. Es ist schließlich oft genug in den Medien. Man müßte sich schon komplett ausgeklinkt haben damit einem diese Problematik nicht begegnet. Aber trotzdem zieht anscheinend kaum einer irgendwelche Konsequenzen daraus, so alarmierend das auch sein mag. Das ist der eigentlich interessante Punkt dabei, jedenfalls aus meiner Sicht. Jeder weiß es, aber nachdem es so bequem ist, so praktisch, so cool und so nützlich, macht man halt mit, und verdrängt die Risiken. Was soll man auch machen, nicht wahr?
Wir sind ja auch so weit, daß es gar nicht mehr viel nutzt, wenn wir selbst nicht daran teil nehmen. Gar nicht teilnehmen geht sowieso praktisch nicht. Man überlege sich mal was alles nicht mehr gehen würde, wenn man das Smartphone wegschmeißen würde, und wenn man alle Geräte wieder strikt voneinander trennen würde, und vom Internet. Es ist noch nicht viele Jahre her, da war das so, aber schon können wir uns nicht mehr vorstellen wie man so leben konnte. Aber selbst gesetzt den Fall ich würde dahin zurück gehen, für mich selber. Ich wäre trotzdem umgeben von Leuten, die immer noch Teil dieses Netzwerks sind, die ihre diversen vernetzten Geräte mit Sprachsteuerung betreiben und mit sich herum tragen. Die damit letztlich auch ermöglichen, daß ich miterfaßt werde, durch Mikrofone und Kameras, durch das was sie über mich kommunizieren und mit mir kommunizieren, alles Daten die von irgendwem ausgewertet werden. Ich habe die Kontrolle über meine Daten längst verloren. Eine realistische Möglichkeit, diese Kontrolle zurück zu gewinnen, wenn ich das wollte, habe ich nicht mehr.
Das ist eine ernüchternde Erkenntnis für jemanden wie mich, der sich damals bei der Volkszählung (erinnert sich noch jemand daran?) gesträubt hat, dem Staat ein paar Daten zur Verfügung zu stellen, die heute geradezu lächerlich und trivial erscheinen. Die damaligen Proteste führten zum verfassungsgerichtlich festgestellten Recht jedes Menschen auf informationelle Selbstbestimmung, ein Recht das inzwischen als obsolet gelten kann, angesichts der hemmungslosen Datenerfassung, die inzwischen üblich ist.
Damals standen wir noch unter dem Eindruck der etwas ominösen Jahreszahl "1984", was natürlich auf George Orwell und seinen Roman zurück geht. Habt Ihr den gelesen? Orwell hat ihn 1949 geschrieben, da konnte man natürlich die technische Entwicklung noch nicht so gut voraussehen. In dieser Hinsicht liest sich der Roman heute ziemlich drollig. Und 1984 war definitiv zu früh angesetzt, wenn man es aus der europäischen Perspektive sieht (in Nordkorea würde man es wohl anders sehen). 2024 würde viel besser passen, denn heute gibt es eigentlich alles was man braucht, und besser als es sich Orwell hätte vorstellen können. Das war 1984 noch nicht so. Den Televisor stellte sich Orwell als ortsfest installiertes Gerät vor, das wie eine Kombination von Fernseher mit Kamera und Mikrofon war. Und man konnte es nicht ausschalten. Im Grunde hat man das heute als Handy in der Tasche und trägt es mit sich herum, und auch wenn man es ausschalten könnte tut man es nicht. Die technischen Voraussetzungen für das, was Orwell beschreibt, sind perfekt realisiert, also was steht dem im Weg, was Orwell in seinem Roman darstellt? Was steht zwischen unserer Situation im Moment, und der reinen Tyrannei?
Die juristische und politische Struktur unserer Gesellschaft ist jedenfalls hoffnungslos überfordert mit einer so rapiden technischen Entwicklung. Die juristische Behandlung des Datenschutzes und der Datenerfassung ist im Wesentlichen noch immer die von vor 25 Jahren. Allein die technische Entwicklung der letzten 5 Jahre hat das komplett überfahren, und es geht allem Anschein nach in diesem Tempo weiter. Die Politik hat in weiten Teilen noch nicht einmal kapiert was da passiert, und ist augenscheinlich völlig hilf- und planlos. Wenn man von da überhaupt etwas hört, dann läuft es darauf hinaus daß der einzelne Bürger eben selber auf sich aufpassen muß. Mit irgendwelchen Marktregulierungen tut man sich extrem schwer, zumal die Maßnahmen Gefahr laufen, in dem Moment schon überholt und überflüssig zu sein, in dem man sich auf sie geeinigt hat.
Das sind ideale Umstände für diejenigen Firmen, die schnell agieren können. Man kann so Fakten schaffen, die nicht mehr zurück zu drehen sind. Angesichts der Größe und der Macht von Firmen wie Google, Amazon, Facebook etc. ist es schlicht unvorstellbar, daß sich die Politik dazu durchringen könnte, Regeln zu schaffen die das Geschäftsmodell dieser Firmen in Frage stellen würden. Das Geschäftsmodell basiert auf der hemmungslosen Datenerfassung, also wird es keine Regeln geben, die das signifikant einschränken. In diesem Internet-zentrierten Markt läuft gerade eine wachsende Büffelherde aus Firmen völlig ohne Lenkung in eine Richtung in der maximaler Gewinn erwartet wird. Entsprechende gesetzliche Prinzipien wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, die im Weg stehen könnten, werden einfach überrannt und stillschweigend beerdigt werden. Solche Regeln sind ohnehin nur national, und die Herde ist international unterwegs. Wollt Ihr das so? Habt Ihr Euch das mal überlegt?
Ich weiß auch nicht was man da machen kann, aber ich finde, man kann das nicht einfach ungebremst laufen lassen. Ich kann nur dafür plädieren, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, und sich bewußt zu überlegen, wo man mitmachen will und wo nicht. Das fängt damit an, daß man sich bewußt macht wie man sich locken läßt. Da sind wir dann wieder am Anfang des Artikels. Euch ist vielleicht bisher noch nicht bewußt geworden, wie die Geschlechterrollen ganz gezielt eingesetzt werden, um uns rumzukriegen. Deswegen die weiblichen "Assistenten". Ich bin mittlerweile allergisch dagegen, mir fällt so etwas auf. Ihr könnt mir meinetwegen Misogynie vorwerfen, aber ich finde, der eigentliche Übeltäter sind hier die Firmen, die das ganz kaltblütig zu ihrem Nutzen einsetzen.
So ähnlich ist das auch bei den Robotern, die anscheinend auch zunehmend auf möglichst humanoid und niedlich getrimmt werden. Es gibt dafür keinen technischen Grund, das ist reine Psychologie, und ich merke wie ich mich immer mehr dagegen sträube. Aber das wäre der Stoff für einen weiteren Artikel.
Für diesmal soll's mir genügen, wenn ich etwas Bewußtsein geschaffen habe für ein Problem, was uns noch ganz sauer aufstoßen könnte. Wie gesagt, ich habe keine Rezepte parat, aber ich fände es schon gut wenn Ihr nicht bloß nach der kurzfristigen Bequemlichkeit entscheiden würdet, sondern Euch überlegt was Ihr da unterstützt, und ob Ihr mit den eventuellen Kosequenzen einverstanden seid. Also ein bißchen vorausschauend entscheidet, und vielleicht auch mal aus prinzipiellen und strategischen Gründen auf eine Bequemlichkeit verzichtet, und Euch bewußt macht daß jedes Mikrofon in einem vernetzten Gerät nicht nur eine potenzielle Wanze ist, sondern ein Datenerfassungsmittel für internationale Firmen, die daraus den maximalen Profit schlagen wollen, ganz egal was das für Euch bedeutet.
Aber wenn Ihr nur auf Bequemlichkeit aus wärt, dann hättet Ihr sowieso nicht bis hierher weitergelesen.
Seit Apple mit Siri vor gut 5 Jahren die Spracherkennung in den iPhones integriert hat, taufte fast jede Firma ihre Spracherkennungstechnologie mit weiblichen Vornamen. Bei Microsoft redet man mit Cortana, und bei Amazon gibt's inzwischen Alexa. Nur bei Google hört man auf den neutralen Ruf "Ok Google". Schon zuvor fiel mir auf, daß die Stimme irgendwelcher elektronischen Dienste fast immer weiblich ist, egal ob es das Navi ist, oder die Stimme des automatischen Telefonservice, oder die blöde Automatentante, die mich anruft, um mir dann "Herzlichen Glückwunsch" in's Ohr zu plärren. Es erhärtet sich die Erkenntnis: Technische Versuche, menschlich zu wirken, sind überwiegend weiblich.
Ich gebe zu, daß mich Cortana von Microsoft gleich von Anfang an genervt hat. Ich bin Computer-Mensch seit ich Teenie war, und das war noch in den 70ern, also deutlich bevor die Welt mit dem IBM-PC beschenkt wurde. Und hier kommt ein Mädel daher und will mir meinen PC erklären, ja drängt sich geradezu auf. Wenn das keine Kränkung ist! Besonders wenn man dann schnell merkt, daß sie keine Ahnung hat, und auch nichts anderes macht als für mich zu googeln (oder "bingen"). Sorry Mädel, das kann ich auch selber, vielen Dank! Ich habe sie rausgeschmissen.
Ich will hier aber nicht in Maskulismus schwelgen. Diese Beispiele deuten auf ein tiefer liegendes Muster hin, auf eine Masche, die durchaus erfolgreich zu sein scheint. Assistenten jedweder Art sind der letzte Schrei, und die brauchen nicht nur eine Stimme und einen (weiblichen) Namen, sondern insbesondere auch Spracherkennung bzw. Sprachsteuerung. Und Sprachsteuerung braucht ein Gerät, das immer zuhört. Wenn es gut funktioniert, ist es superpraktisch. Wir erleben gerade wie sich das in den Alltag integriert.
Es ist aber auch supergefährlich. Und hier haben wir ein Problem: In den letzten 10 Jahren hat sich noch jede Technik, die superpraktisch ist, in Windeseile durchgesetzt, egal wie gefährlich sie ist. Ich habe keinen Zweifel daß es mit der Sprachsteuerung ebenso ist. Ich glaube aber daß wir damit letztlich die Privatheit, und somit die Macht über uns selber aus der Hand geben. Wenn Ihr jetzt schon wieder abwinkt, wenn Ihr denkt "wieder so ein langweiliger Alarmist", und "was soll denn schon passieren, ging doch auch bisher gut", dann braucht Ihr nicht weiter zu lesen. Ich will bloß diejenigen erreichen, die auch erreicht werden wollen. Und ich werde keine Handlungsanweisungen geben, ich will bloß zum Nachdenken anregen über Dinge, über die vielleicht der Einzelne nicht genug nachgedenkt bevor er handelt.
Die Spracherkennung ist gar nicht das Problem. Das Problem ist Spracherkennung in Verbindung mit Vernetzung. Darin liegt aber gleichzeitig auch der größte Nutzen. Um deutlich zu machen wie ich das meine, schauen wir uns erst einmal an was denn in der Praxis schon jetzt (eingeschränkt) oder in naher Zukunft (immer besser) gehen wird:
Irgendein Gerät in unserer Nähe (oder sogar mehrere davon) wird ständig mithören, was wir sagen. Es wird verstehen was wir sagen, und versuchen, daraus Informationen zu gewinnen. So kann man Aktionen auslösen, wie z.B. das Abspielen von Musik oder die Wahl eines Programms im Radio oder Fernsehen. Oder die Steuerung von Licht oder Heizung. Das Öffnen der Tür. Den Kauf eines Produkts im Internet. Das Tätigen von Bankgeschäften.
Wer ein Auto hat, das selber fahren kann, könnte auch sein Auto auf diese Weise steuern. Man könnte das Garagentor öffnen, das Auto vorheizen und vor die Tür fahren lassen, während man gerade aus der Dusche tritt, die man natürlich ebenfalls sprachsteuern kann. Auf dem Weg nach draußen kann man noch den automatischen Staubsauger beauftragen, sich die anstehenden Aufgaben aus dem persönlichen Kalender aufsagen lassen und die Alarmanlage scharf schalten. Alles einfach mit der eigenen Stimme.
Das alles geht wenn die entsprechenden Geräte miteinander und mit dem Internet verbunden sind. Es ist das Internet der Dinge (IoT).
Dabei sollte man sich bewußt machen, daß die Spracherkennung selbst ebenfalls im Netzwerk stattfindet. Es ist keine Funktion, das ein Gerät autonom ausführt. Der Hersteller und Dienstanbieter will davon ebenfalls etwas haben. Einmal um die Qualität der Spracherkennung kontinuierlich zu verbessern. Aber noch wichtiger auch um immer mehr über die Nutzer zu erfahren. Damit kann man viel Geld verdienen. Jeder sollte davon ausgehen, daß alles was er im Beisein eines solchen Geräts sagt, ob es mit dem Gerät etwas zu tun hat oder nicht, seinen Weg zum Hersteller findet. Jedes solche Gerät ist eine Wanze.
Es ist noch weit mehr als eine Wanze. Bei einer klassischen Wanze gab es auf der anderen Seite genau eine Instanz, die abgehört hat. In aller Regel war das ein Geheimdienst. Das konnte den meisten normalen Leuten ziemlich gleichgültig sein, denn normale Leute kommen selten ins Fadenkreuz von Geheimdiensten. Zudem war diese Form von Abhören teuer genug um es sparsam anzuwenden. Das ist heute völlig anders. Die IoT-Wanzen bezahlt der Abgehörte, der auch freiwillig dafür sorgt daß sie immer an sind. Und die abgehörten Daten werden von einer Dienstleistungsfirma kontinuierlich ausgewertet, so daß man das fertig ausgewertete Ergebnis als interessierte Partei vom Dienstleister kaufen kann. Der Endeffekt ist, daß praktisch jedermann ständig und überall abgehört wird, und daß man fertig ausgewertete Daten auch im Nachhinein von praktisch jedermann abrufen kann, wenn man den Dienstleister dafür bezahlen kann, oder wenn man ihn zur Herausgabe der Daten verdonnern kann.
Die Konsequenzen für die staatliche Strafverfolgung sind vielleicht die, die Euch als Erstes in den Kopf kommen. Damit kann man je nach Perspektive auch am leichtesten einverstanden sein. Viele Leute scheinen ja immer noch der Meinung zu sein, sie hätten nichts zu verbergen, und gerade die staatlichen Verbrechensbekämpfer dürften alles wissen. Eine aus meiner Sicht unfassbar naïve Haltung, weil sie davon ausgeht, daß der Staat keine Fehler macht und immer auf Seiten der Bürger steht, aber immerhin ist das angesichts der vorhandenen Bedrohungen der inneren Sicherheit noch ein klein wenig nachvollziehbar.
Aber selbst wenn man diese naïve Haltung hat, kann einem kaum wohl dabei sein, wenn man sich überlegt wer sonst noch Zugriff auf diese Daten hat, oder bekommen könnte. Schon die Firmen, die diese Daten sammeln, wie Google, Amazon, Apple, Microsoft und so weiter, tun das um Euch möglichst gut kennenzulernen. Erstens können sie Euch dann gezielt Dinge verkaufen. Das ist nicht unbedingt so gut wie es sich anhört, denn in letzter Konsequenz wollen sie damit Euch eine personalisierte Filterblase bauen, also Eure Wahrnehmung steuern, um Euch nicht bloß ganz bestimmte Produkte verkaufen zu können, sondern auch den Preis dafür zu optimieren. Sie wissen irgendwann nicht nur was man Euch verkaufen könnte, sondern auch wieviel Ihr dafür zu bezahlen bereit seid. Glaubt nicht daß das zu Eurem Vorteil gerät.
Aber auch andere Firmen wollen diese Daten haben, und sind bereit sie von den genannten Dienstleistungsfirmen zu kaufen. Denkt nur mal darüber nach wie interessant alle diese Informationen für Versicherungen sind, die ihr Risiko einzuschätzen versuchen. Oder Banken, von denen Ihr einen Kredit wollt. Oder Arbeitgeber, bei denen Ihr arbeiten wollt. In dem Moment, wo Ihr von der Versicherung oder Bank oder vom Arbeitgeber etwas wollt, ist es zu spät. Die Informationen sind schon draußen. Dann wird es nichts nützen, nachträglich etwas löschen zu wollen, oder nachforschen zu wollen wie ein unbequemes und vielleicht überraschendes "Rating" zustande gekommen ist.
Und schließlich sind auch die Bösewichte dieser Welt an den Daten interessiert. In bargeldlosen Zeiten wird man vielleicht nicht mehr in eine Wohnung einbrechen wollen, in der Hoffnung dort Geld zu finden, aber es wird immer noch genügend Wertgegenstände geben, die man heraus holen kann. Wenn nicht, dann könnte man sich Türschlösser und Alarmanlagen auch sparen. Was die Diebe brauchen, ist Information darüber wann die Chancen für einen Einbruch am besten stehen. Und am besten auch die Möglichkeit, die Türen ohne Alarm und ohne Gewalt zu öffnen. Dafür ist das IoT geradezu ideal. Wenn man da mal eingebrochen ist, dann hat man Zugriff auf alle Funktionen. Womöglich sogar mit Sprachsteuerung. Viele Systeme scheinen nicht so wählerisch zu sein wer da mit ihnen spricht. Zu wählerisch würde ja bedeuten, daß es öfter nicht funktioniert, und wir wissen ja alle daß das Wichtigste ist daß die Sache gut und bequem funktioniert. Das war immer so: Es setzen sich die bequemen Systeme durch, nicht die sicheren. Wenn sich Bequemlichkeit und Sicherheit widersprechen, dann wird der Kompromiß immer zu Lasten der Sicherheit ausfallen. Das ist nicht die Schuld der Hersteller, so wollen es die Kunden.
Und der physische Einbruch ist noch das harmlosesete der Szenarien, denn dazu muß sich immer noch jemand zur Wohnung hin bewegen. Attraktiver sind Delikte, die sich gänzlich aus der Ferne bewerkstelligen lassen. Wenn die sprachgesteuerten Geräte selber Bestellungen und Bankgeschäfte ausführen können, dann ist das ideal für Kriminelle. Die können das vom Ausland aus tun, und können sich so außerhalb der Reichweite der hiesigen Gesetze und Gesetzeshüter bewegen.
Auch das ist noch nicht alles. Eine solche Vielfalt vernetzter Geräte kann man sich auch noch zu anderen Zwecken zunutze machen. Es hat in den letzten Monaten bekanntlich mehrere Fälle gegeben, wo verwundbare Geräte von ganz normalen Verbrauchern durch Cyberkriminelle gekapert wurden, um sie zu "Soldaten" in einer Art Cyberkrieg zu machen. Nichts anderes sind die sogenannten Botnetze, die aus Tausenden oder gar Millionen gekaperter Geräte bestehen, die man quasi auf Knopfdruck von irgendwo auf der Welt aus zum Angriff bringen kann. Der Besitzer eines gekaperten Geräts braucht davon gar nichts mitzukriegen, weil für ihn alles weiterhin funktioniert. Sein Gerät ist das elektronische Äquivalent eines "Schläfers". Der weithin in den Medien diskutierte Ausfall von Routern der Telekom letzten November ist nur deswegen so aufgefallen, weil das Kapern in diesem Fall schief gegangen war. Die Telekom-Geräte waren gar nicht das Ziel des Kaper-Versuchs, sondern haben allergisch auf den damit verbundenen Datenverkehr reagiert. Die Geräte, die in diesem Fall gekapert werden sollten, waren ganz andere, und bei denen hat der Versuch wohl auch funktioniert. Nur stehen die nicht in Deutschland, sondern z.B. in Irland und in Brasilien. Also kein Grund sich beruhigt zurück zu lehnen.
Jetzt kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, daß einem das egal sein kann ob sein Gerät als Soldat in einem Botnetz eingespannt wird, solange alles funktioniert. Das ist verständlich speziell wenn man sich damit sowieso nicht auskennt, und nicht darüber nachdenkt was daraus folgen könnte. Es kann aber übel zurückschlagen. Wenn die Botnetze dafür benutzt werden, die öffentliche Infrastruktur anzugreifen, von der man selbst abhängt, also Strom, Wasser, Telekommunikation, Verkehr etc., dann ist das nicht mehr ganz so lustig. Will man wirklich freiwillig Gegner der eigenen Staatsordnung mit Waffen versorgen, nur aus eigener Bequemlichkeit? Ist das nicht ein kleines bißchen so als würde man den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen, und es dadurch einfach für einen Extremisten machen seinen LKW für einen Angriff zu benutzen?
Die meisten Leute wissen natürlich inzwischen, wenigstens im Prinzip, welche Risiken das alles hat. Es ist schließlich oft genug in den Medien. Man müßte sich schon komplett ausgeklinkt haben damit einem diese Problematik nicht begegnet. Aber trotzdem zieht anscheinend kaum einer irgendwelche Konsequenzen daraus, so alarmierend das auch sein mag. Das ist der eigentlich interessante Punkt dabei, jedenfalls aus meiner Sicht. Jeder weiß es, aber nachdem es so bequem ist, so praktisch, so cool und so nützlich, macht man halt mit, und verdrängt die Risiken. Was soll man auch machen, nicht wahr?
Wir sind ja auch so weit, daß es gar nicht mehr viel nutzt, wenn wir selbst nicht daran teil nehmen. Gar nicht teilnehmen geht sowieso praktisch nicht. Man überlege sich mal was alles nicht mehr gehen würde, wenn man das Smartphone wegschmeißen würde, und wenn man alle Geräte wieder strikt voneinander trennen würde, und vom Internet. Es ist noch nicht viele Jahre her, da war das so, aber schon können wir uns nicht mehr vorstellen wie man so leben konnte. Aber selbst gesetzt den Fall ich würde dahin zurück gehen, für mich selber. Ich wäre trotzdem umgeben von Leuten, die immer noch Teil dieses Netzwerks sind, die ihre diversen vernetzten Geräte mit Sprachsteuerung betreiben und mit sich herum tragen. Die damit letztlich auch ermöglichen, daß ich miterfaßt werde, durch Mikrofone und Kameras, durch das was sie über mich kommunizieren und mit mir kommunizieren, alles Daten die von irgendwem ausgewertet werden. Ich habe die Kontrolle über meine Daten längst verloren. Eine realistische Möglichkeit, diese Kontrolle zurück zu gewinnen, wenn ich das wollte, habe ich nicht mehr.
Das ist eine ernüchternde Erkenntnis für jemanden wie mich, der sich damals bei der Volkszählung (erinnert sich noch jemand daran?) gesträubt hat, dem Staat ein paar Daten zur Verfügung zu stellen, die heute geradezu lächerlich und trivial erscheinen. Die damaligen Proteste führten zum verfassungsgerichtlich festgestellten Recht jedes Menschen auf informationelle Selbstbestimmung, ein Recht das inzwischen als obsolet gelten kann, angesichts der hemmungslosen Datenerfassung, die inzwischen üblich ist.
Damals standen wir noch unter dem Eindruck der etwas ominösen Jahreszahl "1984", was natürlich auf George Orwell und seinen Roman zurück geht. Habt Ihr den gelesen? Orwell hat ihn 1949 geschrieben, da konnte man natürlich die technische Entwicklung noch nicht so gut voraussehen. In dieser Hinsicht liest sich der Roman heute ziemlich drollig. Und 1984 war definitiv zu früh angesetzt, wenn man es aus der europäischen Perspektive sieht (in Nordkorea würde man es wohl anders sehen). 2024 würde viel besser passen, denn heute gibt es eigentlich alles was man braucht, und besser als es sich Orwell hätte vorstellen können. Das war 1984 noch nicht so. Den Televisor stellte sich Orwell als ortsfest installiertes Gerät vor, das wie eine Kombination von Fernseher mit Kamera und Mikrofon war. Und man konnte es nicht ausschalten. Im Grunde hat man das heute als Handy in der Tasche und trägt es mit sich herum, und auch wenn man es ausschalten könnte tut man es nicht. Die technischen Voraussetzungen für das, was Orwell beschreibt, sind perfekt realisiert, also was steht dem im Weg, was Orwell in seinem Roman darstellt? Was steht zwischen unserer Situation im Moment, und der reinen Tyrannei?
Die juristische und politische Struktur unserer Gesellschaft ist jedenfalls hoffnungslos überfordert mit einer so rapiden technischen Entwicklung. Die juristische Behandlung des Datenschutzes und der Datenerfassung ist im Wesentlichen noch immer die von vor 25 Jahren. Allein die technische Entwicklung der letzten 5 Jahre hat das komplett überfahren, und es geht allem Anschein nach in diesem Tempo weiter. Die Politik hat in weiten Teilen noch nicht einmal kapiert was da passiert, und ist augenscheinlich völlig hilf- und planlos. Wenn man von da überhaupt etwas hört, dann läuft es darauf hinaus daß der einzelne Bürger eben selber auf sich aufpassen muß. Mit irgendwelchen Marktregulierungen tut man sich extrem schwer, zumal die Maßnahmen Gefahr laufen, in dem Moment schon überholt und überflüssig zu sein, in dem man sich auf sie geeinigt hat.
Das sind ideale Umstände für diejenigen Firmen, die schnell agieren können. Man kann so Fakten schaffen, die nicht mehr zurück zu drehen sind. Angesichts der Größe und der Macht von Firmen wie Google, Amazon, Facebook etc. ist es schlicht unvorstellbar, daß sich die Politik dazu durchringen könnte, Regeln zu schaffen die das Geschäftsmodell dieser Firmen in Frage stellen würden. Das Geschäftsmodell basiert auf der hemmungslosen Datenerfassung, also wird es keine Regeln geben, die das signifikant einschränken. In diesem Internet-zentrierten Markt läuft gerade eine wachsende Büffelherde aus Firmen völlig ohne Lenkung in eine Richtung in der maximaler Gewinn erwartet wird. Entsprechende gesetzliche Prinzipien wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, die im Weg stehen könnten, werden einfach überrannt und stillschweigend beerdigt werden. Solche Regeln sind ohnehin nur national, und die Herde ist international unterwegs. Wollt Ihr das so? Habt Ihr Euch das mal überlegt?
Ich weiß auch nicht was man da machen kann, aber ich finde, man kann das nicht einfach ungebremst laufen lassen. Ich kann nur dafür plädieren, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, und sich bewußt zu überlegen, wo man mitmachen will und wo nicht. Das fängt damit an, daß man sich bewußt macht wie man sich locken läßt. Da sind wir dann wieder am Anfang des Artikels. Euch ist vielleicht bisher noch nicht bewußt geworden, wie die Geschlechterrollen ganz gezielt eingesetzt werden, um uns rumzukriegen. Deswegen die weiblichen "Assistenten". Ich bin mittlerweile allergisch dagegen, mir fällt so etwas auf. Ihr könnt mir meinetwegen Misogynie vorwerfen, aber ich finde, der eigentliche Übeltäter sind hier die Firmen, die das ganz kaltblütig zu ihrem Nutzen einsetzen.
So ähnlich ist das auch bei den Robotern, die anscheinend auch zunehmend auf möglichst humanoid und niedlich getrimmt werden. Es gibt dafür keinen technischen Grund, das ist reine Psychologie, und ich merke wie ich mich immer mehr dagegen sträube. Aber das wäre der Stoff für einen weiteren Artikel.
Für diesmal soll's mir genügen, wenn ich etwas Bewußtsein geschaffen habe für ein Problem, was uns noch ganz sauer aufstoßen könnte. Wie gesagt, ich habe keine Rezepte parat, aber ich fände es schon gut wenn Ihr nicht bloß nach der kurzfristigen Bequemlichkeit entscheiden würdet, sondern Euch überlegt was Ihr da unterstützt, und ob Ihr mit den eventuellen Kosequenzen einverstanden seid. Also ein bißchen vorausschauend entscheidet, und vielleicht auch mal aus prinzipiellen und strategischen Gründen auf eine Bequemlichkeit verzichtet, und Euch bewußt macht daß jedes Mikrofon in einem vernetzten Gerät nicht nur eine potenzielle Wanze ist, sondern ein Datenerfassungsmittel für internationale Firmen, die daraus den maximalen Profit schlagen wollen, ganz egal was das für Euch bedeutet.
Aber wenn Ihr nur auf Bequemlichkeit aus wärt, dann hättet Ihr sowieso nicht bis hierher weitergelesen.
Donnerstag, 5. Januar 2017
Uralte Geschichte, reformiert
Das hier ist gewissermaßen der zweite Teil meines Artikels vom vorigen Monat. Dort bin ich weit in die Geschichte (bzw. Mythologie) zurück gegangen, um zu zeigen daß die Wurzeln der drei "Buchreligionen" die gleichen sind, und diese Wurzeln den Kern der Problematik bilden, die wir mit den Religionen auch heute noch haben, nämlich ihre Intoleranz und Gewalttätigkeit.
Dagegen wird oft eingewandt (auch im Kommentarteil zu meinem Artikel), daß wir es, speziell im Christentum, heute mit einer "reformierten" Religion zu tun hätten, was einen entscheidenden Unterschied mache. Zum Beispiel sagt man oft, dem Islam fehle bis heute eine solche Reformation, wie sie das Christentum erlebt hat, und das sei der Grund warum sich der Islam auch heute noch so "rückständig" zeige, verglichen mit dem Christentum.
In diesem Artikel hier will ich mich der Frage widmen, was da dran ist. Inwiefern sich also dieser vor über 3000 Jahren angelegte "Geburtsfehler" der Religion durch die folgende Entwicklung, einschließlich der Entstehung des Christentums und des Islams, und den Reformbewegungen der drei Religionen in ihrer Geschichte, etwas Grundlegendes an dieser Lage geändert hat. Das ist natürlich meine jetzige Ansicht der Dinge, und die muß sich weder mit der anderer Leute decken, noch ist sie für alle Zeiten fest, ich kann also durchaus auch durch Argumente umgestimmt werden.
Ich will auch gleich am Anfang klarstellen, daß ich, wenn ich von der Religion rede, nicht jeden einzelnen Anhänger der entsprechenden Religion meine, sondern die Lehren, Dogmen und Verhaltensweisen der Religionen und ihrer "hauptamtlichen Vertreter". Die allermeisten Anhänger aller dieser Religionen sind zuvorderst einmal Mensch, und haben ihren gesunden Menschenverstand, und ihre zwischenmenschliche Empathie. Die sind in aller Regel für ihr Verhalten und ihre Ansichten bedeutender als irgendein religiöses Dogma oder Gebot. Egal ob Jude, Christ oder Moslem, die allermeisten Leute schmeißen nicht einfach Steine auf Leute, bloß weil das in einem alten heiligen Buch so drin steht. Zum Glück ist das so. Viele mögen glauben, die Religion sei die Grundlage für ihr moralisches Verhalten, aber in Wirklichkeit sind sie einfach deswegen gute Menschen, weil sie mitmenschlich denken und fühlen. Weil sie kapieren, daß sie in der gleichen Situation sein könnten wie Ihr Gegenüber, und Andere deswegen menschlich behandeln weil sie selber menschlich behandelt werden wollen.
Alle Religionen enthalten ein Element der Mitmenschlichkeit, die genau dieses Empfinden zu stärken versucht, und insoweit das so ist, ist dagegen auch kaum etwas einzuwenden. Viele Religionsanhänger glauben, das sei eine der Hauptsachen, um die es ihrer Religion im Diesseits gehe. Ich würde bloß darauf hinweisen wollen, daß es dafür keinen Moses, Jesus oder Mohammed gebraucht hätte.
In meinem vorigen Artikel habe ich darzustellen versucht, daß bei Moses vor über 3000 Jahren diese Mitmenschlichkeit eine Forderung war, die sich auf den Umgang innerhalb der eigenen Gruppe bezogen hat. Der "Nächste", von dem in den Geboten die Rede ist, ist ganz eindeutig der andere Jude, nicht der andere Mensch. Ein Amalekiter, Kanaanäer, Jebusiter etc. war sicher kein Nächster, sondern ein zu vernichtender Feind. Wer die alttestamentarischen Bücher liest, der kann daran nicht den geringsten Zweifel haben.
Wenn man unter dem "Nächsten", dem gegenüber man zur Mitmenschlichkeit verpflichtet ist, jeden beliebigen Menschen versteht, egal welchen Glaubens, welcher Rasse oder welcher Herkunft, dann ist das ein radikal anderes Konzept als das des Moses. Mich stört, wenn Christen so tun als würden die 10 Gebote von Moses aussagen, daß alle Menschen in dieser Hinsicht gleich, nämlich als Nächster, behandelt werden sollen. Es ist eine fundamentale Umdeutung, die man schon als solche benennen sollte, anstatt den gravierenden Unterschied unter den Teppich zu kehren.
Es ist eine Umdeutung, die man auch nicht auf Jesus zurückführen kann. Jesus hat manches aus der jüdischen Religion umgedeutet, aber das nicht. Auch ihm ging es immer nur um sein eigenes, jüdisches Volk. Seine eigene Lehrtätigkeit hat sich ja auf ein recht eng umgrenztes Gebiet in Judäa beschränkt, und gepredigt hat er zu seinen Landsleuten. Mit den Römern hatte er nichts zu schaffen. Pilatus könnte der erste Römer sein, zu dem er überhaupt geredet hat, und das anscheinend nur widerwillig. Als Adressaten für seine Predigten kamen sie nicht vor. Selbst zu den Nachbarvölkern hatte er eher ein problematisches Verhältnis, wie man vielleicht am besten sehen kann am Beispiel seiner Begegnung mit einer kanaanäischen Frau, die ihn um Hilfe für ihre Tochter bittet. Bei Matthäus laßt er sie erst mit den Worten abblitzen: "Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt." und vergleicht sie mit Hunden. Ihre extrem unterwürfige Antwort "Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen." stimmt ihn um, und er hilft ihr. Das läßt an Eindeutigkeit und Drastik nichts zu wünschen übrig. Er steht in dieser Hinsicht ganz auf dem Boden, den Moses gelegt hat.
Es war Paulus, der angefangen hat, die "Heiden", also die Nichtjuden, zu missionieren, man kann also allenfalls ihn dafür verantwortlich machen, daß es zu dieser Umdeutung kam. Paulus ist Jesus zu Lebzeiten nicht begegnet, er behauptete lediglich, den auferstandenen Jesus gesehen zu haben. Und Paulus' Lehre ist bei den Urchristen, die Jesus noch selbst gekannt hatten, keineswegs auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Ungefähr 15 Jahre nach Jesu Tod kam es zum Apostelkonzil, in dem diese unterschiedlichen Ansichten aufeinander geprallt sind. Paulus will von der Betonung des (jüdischen) Gesetzes weg und betont den Glauben, durch den letztlich auch der nichtjüdische Gläubige zum Erbe Abrahams wird, und somit den "echten" Juden ebenbürtig (siehe Galaterbrief). Aber auch das heißt nicht, daß man allen Menschen gegenüber gleichermaßen zur Mitmenschlichkeit verpflichtet wäre. Es wird immer noch ein Unterschied gemacht zwischen dem Gläubigen und dem Nichtgläubigen. Im Römerbrief heißt es zwar man solle auch seinen Feind speisen, wenn er hungert, aber nicht aus Mitmenschlichkeit, sondern weil man dadurch "feurige Kohlen auf sein Haupt sammelt". Ich würde das eher taktisches Kalkül nennen. Das alles gefiel den in Jerusalem verbliebenen Urchristen nicht, die auf die jüdischen Gesetze einschließlich der Beschneidung wert legten.
Es ist eine interessante Frage, warum die Urchristen letztlich unterlegen sind, und sich Paulus' Richtung durchgesetzt hat, obwohl er doch viel weiter von der ursprünglichen Lehre des Jesus weg war. So wie ich das sehe, dürfte das in erster Linie daran gelegen haben, daß Paulus' Anhänger kaum in Jerusalem waren, und folglich seine Richtung auch kaum von der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der schlußendlichen Vertreibung der Juden aus Jerusalem nach dem Bar-Kochba-Aufstand betroffen war. Die Urchristen aus Jerusalem konnten sich zwar weitgehend in Sicherheit bringen, z.B. nach Pella östlich des Jordans im heutigen Jordanien, aber da sie inhaltlich und vom Auftreten her eher zu den Juden gerechnet wurden, hatten sie auch eher Probleme, als von den Juden getrennte Gruppe wahrgenommen zu werden. Und die Juden hatten gerade nach dem jüdischen Krieg von 66-70, und dem Bar-Kochba-Aufstand um 135, eine ziemlich schlechte PR, um das mit einem heutigen Begriff zu bezeichnen. Die Anhänger von Paulus hatten da sicherlich weniger Mühe, sich als etwas grundlegend Anderes darzustellen, also nicht als eine jüdische Sekte, sondern als eine neue Religion, die mit dem Judentum nicht viel zu tun hatte.
Wo wir gerade beim jüdischen Krieg, und dem Bar-Kochba-Aufstand sind: Das sind meiner Ansicht nach perfekte Beispiele dafür, wie der religiöse Fanatismus auch 1200-1500 Jahre nach Moses auf den von ihm gelegten Grundlagen fröhliche Urständ feierte. Die Sache hatte sich schon zu Lebzeiten von Jesus zusammen gebraut und ist dann im jüdischen Krieg erst recht explodiert. Die Sikarier könnte man wohl ohne große Übertreibung zu Vorläufern heutiger Selbstmordattentäter erklären. Sie haben Leute auf offener Straße und am hellichten Tag abgestochen, um sich dann in der Menge zu tarnen. Damals müssen ähnliche Ängste umgegangen sein wie heute. Ihr Fanatismus war gegenüber den heutigen Gotteskriegern durchaus konkurrenzfähig, sie hatten bloß nicht die Waffen, die es heute gibt. In Masada kann man noch heute die Festung besichtigen, in der sich noch über Jahre nach dem eigentlichen Kriegsende ein fanatischer Trupp verschanzt hatte, bis sie schließlich kollektiven Selbstmord begingen, als die Erstürmung der Festung durch römische Truppen unmittelbar bevorstand. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand schließlich, in dem sich drei unterschiedliche jüdische Rebellenfraktionen noch bitter gegenseitig bekämpft haben sollen, als die Römer schon im Anmarsch waren, waren die Juden 500 Jahre lang aus Jerusalem verbannt, bis auf einen Tag im Jahr an dem sie den Verlust ihres Tempels beklagen durften (am heute noch bestehenden Mauerrest des Tempels).
Insoweit die jüdische Religion heute friedfertiger und in gewissem Sinn reformiert daher kommt, hat das zu einem wesentlichen Teil mit dem Schock zu tun, den sie in diesen Zeiten erlebt hat. Damals wurden die Juden in alle Himmelsrichtungen zerstreut und führten ein Leben in der Diaspora, bevor einige von ihnen 500 Jahre später nach der Eroberung durch die muslimischen Araber wieder nach Jerusalem zurückkehren konnten. Wenn man sich allerdings heute die Situation in Palästina ansieht, dann kann man kaum übersehen welchen Zusammenhang die jüdische Siedlerbewegung mit ihrem Vorbild Moses hat. Die radikalen Juden haben offenbar einen wachsenden Einfluß auf die Politik Israels, und sie sind eindeutig motiviert aus der alten biblischen Saga vom verheißenen Land, und von der göttlichen Verpflichtung, die fremden Völker daraus zu vertreiben. Man findet dort zwar heute keine Amalekiter, Kanaanäer und dergleichen mehr, die Siedler haben aber nicht die geringsten Probleme, die heutigen Palästinenser bzw. Araber damit zu identifizieren. Die Vorstellung ist offenbar, daß der Vernichtungs- bzw. Vertreibungs-Auftrag aus der Zeit von Moses auch heute noch gilt, und seine Erfüllung die Voraussetzung für das Kommen des Messias ist. Israelische Mehrheitsmeinung scheint das zwar bisher nicht zu sein, aber der Einfluß auf die konkrete Politik Israels ist unübersehbar, und hat auch so schon verheerende Folgen.
Aber auch die nicht so radikalen Juden sind bis heute ziemlich stark auf Abgrenzung aus. Das mag ihren Fortbestand in solch langen Zeiten der "Verbannung" und Zertreuung erst ermöglicht haben, aber ihre Religion ist dadurch eben auch bis heute nicht universalistisch. Man wird Jude in erster Linie durch Abstammung, und zwar über die mütterliche Linie. Mich irritiert das eher, denn ich sehe die Frage der Abstammung und Volkszugehörigkeit völlig getrennt von der Frage was jemand glaubt. Bei den Juden vermischt sich das bis fast zur Ununterscheidbarkeit. Ich frage mich da, was dann mit einem atheistischen Juden oder einem muslimischen Juden ist. Gibt's das? Wenn ja, ist es dann ein Jude oder nicht? Oder wird das unter den Teppich gekehrt? Irgendwie vorgesehen scheint dieser Fall nicht zu sein.
Der Islam schließlich, um die Runde voll zu machen, ist ebenfalls keine grundsätzliche Abkehr von den durch Moses gelegten Grundlagen, eher im Gegenteil. Die ursprüngliche Motivation scheint der reformatorische Impuls gewesen zu sein, die vorherrschenden Religionen des Judentums und Christentums von Irrlehren zu reinigen, die sie vom Ursprung entfernt haben. Beim Christentum wird insbesondere die zugegebenermaßen ziemlich obskure Trinitätslehre verhöhnt, die sich anscheinend nicht recht entscheiden kann ob sie nun monotheistisch sein will oder nicht. Mohammed scheint zumindest anfänglich vor allem an spirituell-religiöser Reinheit interessiert gewesen zu sein, an der Bekämpfung von Auswüchsen. Mit wachsendem Erfolg scheint er aber mehr und mehr dem Machtstreben und taktischen Zielen zu unterliegen. Manche "Offenbarungen" kommen seinen eigenen Interessen so offensichtlich zupaß, daß man unweigerlich denkt, er habe sie zu seinem Nutzen bestellt. Entsprechend wurden seine Interessen immer weltlicher, und die Botschaft militärisch-fanatisch.
Ich finde den Gedanken interessant, was wohl aus Jesus geworden wäre, wenn er nicht so früh gestorben wäre. Mohammed hatte seine erste Offenbarung in einem Alter als Jesus schon lange tot war. Jesus starb als er Anfang der 30er war, Mohammed wurde Prophet als Ergebnis einer Art Midlife-Crisis im Alter von etwa 40. Jesus hat nie erlebt daß seine Lehre nennenswerten Erfolg hatte. Er konnte zwar offenbar eine kleine Schar an Anhängern um sich versammeln, aber nennenswerte Macht konnte er nicht erringen, und kaum geriet er mit den Autoritäten in Jerusalem aneinander, wurde er auch schon hingerichtet. Er war in diesem Sinne Idealist bis zum Tod, und konnte gar nicht korrumpiert von Macht sein, denn dafür war nicht genug Zeit. Mohammed dagegen hatte zu seinen Lebzeiten so viel Erfolg, daß er mit seiner Anhängerschaft zu einem regionalen Machtfaktor wurde. Das hat deutliche Spuren in seiner Lehre hinterlassen. "Macht korrumpiert" lautet ein heutzutage wohlbekanntes bon-mot, vielleicht ist Mohammed ein Beispiel dafür. Hätte Jesus 30 Jahre länger gelebt, und eine ähnliche Erfolgsstory hingelegt wie Mohammed, ob er sich dann allmählich eine ähnliche Haltung zugelegt hätte? Wir werden es wohl nie erfahren. Im Ergebnis haben die Christen eine Religion, die auf einen (noch fast) jugendlichen Idealisten zurückgeht, und dann von Paulus stark verändert wurde, während der Islam das Erbe eines machtbewußten Schlachtrosses ist, der mit ähnlichem Idealismus gestartet war, aber unter dem Eindruck seines eigenen Erfolges zunehmend zum Eroberer (und in gewissem Maß auch Narzissten) wurde.
Entsprechend unterschiedlich war auch die weitere Entwicklung der neuen Religionen. Das Christentum brauchte 300 Jahre, um auch nur annähernd zu einer dominanten Position anzuwachsen. Schon zu Mohammeds Lebzeiten konnte sich der Islam über fast die ganze arabische Halbinsel verbreiten, und innerhalb weniger Jahrzehnte danach breitete er sich bis zum heutigen Tunesien und Afghanistan aus. Jerusalem wurde gerade mal 5 Jahre nach Mohammed's Tod erobert. Die Ausbreitung ging auf militärischem Weg, also nicht über das was wir heute Mission nennen würden, sondern über Eroberung. Das Christentum war in den ersten 300 Jahren eher eine Untergrundbewegung, die sich gegen ein gewisses Ausmaß an Feindseligkeit und Unterdrückung durchsetzen mußte. Erst als eine gewisse Machtposition erreicht war, fand weitere Verbreitung des Christentums auch in militärischer Form statt.
Auch das hat seine Folgen bis in die heutige Zeit. Die Idee des "Djihad" hatte von vorn herein eine militärische Facette, auch wenn man den Begriff genauso auch als einen inneren Kampf auffassen kann. Im Grunde bedeutet er beides, der innere und äußere Kampf gehen im Grunde Hand in Hand. Die Form der Verbreitung, die im Christentum als Mission daher kommt, also das Aussenden von Missionaren in die Fremde, um dort zu predigen und Anhänger zu gewinnen, ist für den Islam eher untypisch. In jüngerer Zeit gibt es diese Form der Mission aber verstärkt von den Salafisten aus Saudi Arabien, von wo auch viel Geld in den Bau von Moscheen im Ausland fließt. Das betrifft gar nicht so sehr uns hier in Europa, obwohl auch hierhin Gelder fließen, sondern wesentlich mehr noch die Förderung von salafistischen Gemeinden in anderen muslimischen Ländern, z.B. im Maghreb. Wer sich von salafistischen Umtrieben hier in Deutschland beunruhigen läßt, der sollte sich vielleicht klar machen, daß hier das gleiche Vorgehen vorliegt, wie es die christlichen Kirchen schon sehr lange in anderen Ländern betrieben haben. Die Lehre ist zwar sehr verschieden, das Vorgehen als solches könnten die Saudis aber durchaus von der katholischen Kirche abgekupfert haben. Vielleicht kann man sich so ein klein wenig vorstellen, welchen Effekt die missionarischen Bemühungen aus unseren Gefilden in anderen Teilen der Welt ausgelöst haben könnten.
Es ist nicht zu übersehen, daß auch heute der Begriff des Djihad von radikalen Moslems im militärischen Sinn verstanden wird. Und sie können sich darin durchaus auf Mohammed berufen. Die in diesem Zusammenhang von vielen Moslems geäußerte Überzeugung, es gehe beim Djihad um eine innere Anstrengung und Mission, nicht um äußere Eroberung, ist nicht mit Mohammeds Vorbild in Einklang zu bringen. Mohammed selbst und seine Nachfolger haben den Islam militärisch verbreitet, und genau das wollen die radikalen Moslems ebenfalls. Sie sehen diese Ur-islamische geschichtliche Phase als die Blütezeit des Islam, die es gilt wiederzubeleben. Die Vorstellung ist, daß der so wahrgenommene Niedergang des Islam und der Aufstieg des Christentums letztlich damit zusammen hängt, daß man im Islam verweichlicht ist, sich zerstritten hat, und die ursprünglichen Ziele aus den Augen verloren hat. Das meinen nicht bloß islamische Fundamentalisten, damit kann man auch bei eher gemäßigten Moslems punkten, wie man in der Türkei sehen kann, wo sich ziemlich viele Leute von der Aussicht auf einen Wiederaufstieg eines osmanischen Reiches begeistern lassen, die man beim besten Willen nicht den islamischen Radikalen zuordnen kann. Wenn man sich zugleich davon überzeugen läßt, daß das westliche Christentum degeneriert ist und den Zenit überschritten hat, dann kann man auf die Idee kommen daß die Gelegenheit günstig ist.
Auch hier ist klar, denke ich, daß es nicht um die egalitäe Akzeptanz und Gleichbehandlung aller Menschen geht, unabhängig davon was sie glauben. Der Islam ist da ziemlich klar: Es gibt keine Gleichberechtigung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Gläubigen sitzen in der ersten Reihe, die Ungläubigen werden toleriert, aber nicht zu gleichen Konditionen: Sie zahlen extra Steuern und haben nichts zu sagen. Vom Unglauben zum Glauben gibt's nur eine Einbahnstrasse: Rein geht ziemlich einfach, raus gar nicht. Die Abgrenzung ist nicht auf Volkszugehörigkeit oder Abstammung gegründet, aber vielleicht gerade deswegen so strikt. Zum Teil ist das wie der Kunstgriff von Paulus, der die symbolische Abstammung von Abraham, also die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk, vom Glauben abhängig macht statt von der ethnischen Abstammung, der Unterschied zu Paulus liegt aber darin, wie man zu diesem Glauben kommt und welche Rolle dabei die freie Wahl hat.
Der Islam als die späteste Religion verwirklicht dabei den strengsten Monotheismus. Wo es bei Moses ein Monotheismus der Treue ist (andere Götter mag's zwar geben, sie sind für das auserwählte Volk aber tabu), ist er für die Christen ein durch die Trinität verwässerter existenzieller Monotheismus (es gibt keinen anderen Gott, aber der den es gibt existiert in drei verschiedenen Inkarnationen). Bei den Moslems schließlich gibt es nur einen Gott, und zwar nur in einer Form, die man sich aber nicht vorstellen kann.
Dabei wird klar daß es auch den Moslems sehr um Treue geht, denn Abfall vom Glauben wird drakonisch bestraft. Ginge es hier nur um wahr oder falsch, dann könnte man den Unglauben auch ganz entspannt sehen: Unglauben wäre ein Irrtum, den Schaden daraus hätte nur der Irrende, einen Gläubigen könnte das kalt lassen. Man bräuchte keine weltlichen Strafen oder Sanktionen, und könnte es Gott selbst überlassen, was er damit anzufangen gedenkt. Die extrem harte muslimische Reaktion auf den Abfall vom Glauben deutet darauf hin, daß es hier eigentlich um Untreue geht, und eben nicht um Wahrheit. In diesem Aspekt trifft sich die Sache wieder mit Moses. Der Unterschied besteht nur darin, wie man das auserwählte Volk definiert. Moses definiert es über den "Bund", der einen Volks-spezifischen Gottesglauben mit dem Versprechen auf ein verheißenes Land verbindet. Paulus spricht von einem "neuen" Bund, der über den Glauben konstituiert wird ohne daß es einer bestimmten Volkszugehörigkeit bedürfte. Mohammed unterscheidet sich in dieser Hinsicht nur wenig von Paulus.
Für mich wirken alle drei Religionen nicht wirklich universalistisch, denn alle fallen letztlich auf Abgrenzung zurück. Alle drei betonen auf ihre Weise den Unterschied zwischen denen, die dazugehören, und denen die außen vor sind. Die Kriterien dafür unterscheiden sich in Grenzen, die Konsequenzen in der Praxis sind aber über die Geschichte hinweg ziemlich ähnlich, und das heißt ziemlich gewalttätig. Ob man Mensch ist oder nicht spielt in der Praxis erheblich weniger Rolle als ob man dazugehört oder nicht. Der, der nicht dazugehört wird handfester Diskriminierung ausgesetzt. Und wird dafür selber verantwortlich gemacht.
Selbst die christliche Reformation, die dieses Jahr ihr 500stes Jubiläum feiert, hat daran allenfalls indirekt etwas geändert. Auch Luther hat nichts prinzipiell anderes als Mohammed im Sinn gehabt, nämlich die Reinigung des Glaubens von Auswüchsen und Korruption, die er in der römisch-katholischen Kirche sah. Anders als Mohammed hat er das Individuum und seine ganz eigene Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt gestellt. Damit hat er dem Individuum zu einer geistigen und geistlichen Freiheit verholfen, die ihm selber sehr schnell ungeheuer wurde. Seine Einstellung den Bauernaufständen gegenüber ist ja bekannt, und auch seine Einstellung den Juden gegenüber gereicht ihm aus heutiger Sicht nicht zur Zierde. Hätte er erlebt, wie in seiner Nachfolge das freie Denken den Unglauben, sprich Atheismus befördert hat, hätte er bestimmt noch viel mehr mit seinem Erbe gehadert. Seine Tragik ist, daß man nicht zugleich das freie Denken und die individuelle Verantwortung betonen kann, und andererseits dagegen sein kann wenn eben diese Freiheit dann Ergebnisse hervorruft, die weit über das hinaus gehen, was man gutheißen mag. Auf diese Weise kann man zugleich dankbar sein für seine Leistung, und froh, daß man ihm heute nicht mehr begegnen muß.
Luther hat so den Humanismus möglich gemacht, aber er hätte ihn in der Form wie er sich dann herausgebildet und entwickelt hat, keinesfalls gut geheißen. Und es ist der Humanismus, dem wir das verdanken was man heute die abendländischen Werte, bzw. die abendländische Kultur nennt. Das Christentum einschließlich seiner protestantischen Ausprägung war dabei teils Katalysator, teils Hemmung, aber unter dem Strich mehr Hemmung. Das gilt bis heute.
Ich weiß nicht ob es denkbar ist daß dem Islam etwas Ähnliches widerfährt. Die Situation ist anders, und ich weiß nicht welche Umstände zusammen kommen müssen, damit sich der Islam so weit reformiert daß er den Atheismus zulassen kann. Das kann ja das Christentum kaum. Dabei geht es um nichts weniger. Gerade wenn es darum gehen soll, daß mehrere Religionen friedlich zusammen leben sollen, auch mit Ungläubigen, dann müssen alle Religionen so weit kommen daß sie sich nicht wirklich ernst nehmen, und zugeben können daß andere Ansichten nicht nur existieren, sondern legitim sind und gleichberechtigt, und daß ziviles Recht über den religiösen Vorschriften steht. Ich sehe nicht wie das mit diesen drei Religionen gehen soll. Mit dem Islam am wenigsten, aber auch die anderen beiden Religionen sind noch nicht wirklich so weit.
Dagegen wird oft eingewandt (auch im Kommentarteil zu meinem Artikel), daß wir es, speziell im Christentum, heute mit einer "reformierten" Religion zu tun hätten, was einen entscheidenden Unterschied mache. Zum Beispiel sagt man oft, dem Islam fehle bis heute eine solche Reformation, wie sie das Christentum erlebt hat, und das sei der Grund warum sich der Islam auch heute noch so "rückständig" zeige, verglichen mit dem Christentum.
In diesem Artikel hier will ich mich der Frage widmen, was da dran ist. Inwiefern sich also dieser vor über 3000 Jahren angelegte "Geburtsfehler" der Religion durch die folgende Entwicklung, einschließlich der Entstehung des Christentums und des Islams, und den Reformbewegungen der drei Religionen in ihrer Geschichte, etwas Grundlegendes an dieser Lage geändert hat. Das ist natürlich meine jetzige Ansicht der Dinge, und die muß sich weder mit der anderer Leute decken, noch ist sie für alle Zeiten fest, ich kann also durchaus auch durch Argumente umgestimmt werden.
Ich will auch gleich am Anfang klarstellen, daß ich, wenn ich von der Religion rede, nicht jeden einzelnen Anhänger der entsprechenden Religion meine, sondern die Lehren, Dogmen und Verhaltensweisen der Religionen und ihrer "hauptamtlichen Vertreter". Die allermeisten Anhänger aller dieser Religionen sind zuvorderst einmal Mensch, und haben ihren gesunden Menschenverstand, und ihre zwischenmenschliche Empathie. Die sind in aller Regel für ihr Verhalten und ihre Ansichten bedeutender als irgendein religiöses Dogma oder Gebot. Egal ob Jude, Christ oder Moslem, die allermeisten Leute schmeißen nicht einfach Steine auf Leute, bloß weil das in einem alten heiligen Buch so drin steht. Zum Glück ist das so. Viele mögen glauben, die Religion sei die Grundlage für ihr moralisches Verhalten, aber in Wirklichkeit sind sie einfach deswegen gute Menschen, weil sie mitmenschlich denken und fühlen. Weil sie kapieren, daß sie in der gleichen Situation sein könnten wie Ihr Gegenüber, und Andere deswegen menschlich behandeln weil sie selber menschlich behandelt werden wollen.
Alle Religionen enthalten ein Element der Mitmenschlichkeit, die genau dieses Empfinden zu stärken versucht, und insoweit das so ist, ist dagegen auch kaum etwas einzuwenden. Viele Religionsanhänger glauben, das sei eine der Hauptsachen, um die es ihrer Religion im Diesseits gehe. Ich würde bloß darauf hinweisen wollen, daß es dafür keinen Moses, Jesus oder Mohammed gebraucht hätte.
In meinem vorigen Artikel habe ich darzustellen versucht, daß bei Moses vor über 3000 Jahren diese Mitmenschlichkeit eine Forderung war, die sich auf den Umgang innerhalb der eigenen Gruppe bezogen hat. Der "Nächste", von dem in den Geboten die Rede ist, ist ganz eindeutig der andere Jude, nicht der andere Mensch. Ein Amalekiter, Kanaanäer, Jebusiter etc. war sicher kein Nächster, sondern ein zu vernichtender Feind. Wer die alttestamentarischen Bücher liest, der kann daran nicht den geringsten Zweifel haben.
Wenn man unter dem "Nächsten", dem gegenüber man zur Mitmenschlichkeit verpflichtet ist, jeden beliebigen Menschen versteht, egal welchen Glaubens, welcher Rasse oder welcher Herkunft, dann ist das ein radikal anderes Konzept als das des Moses. Mich stört, wenn Christen so tun als würden die 10 Gebote von Moses aussagen, daß alle Menschen in dieser Hinsicht gleich, nämlich als Nächster, behandelt werden sollen. Es ist eine fundamentale Umdeutung, die man schon als solche benennen sollte, anstatt den gravierenden Unterschied unter den Teppich zu kehren.
Es ist eine Umdeutung, die man auch nicht auf Jesus zurückführen kann. Jesus hat manches aus der jüdischen Religion umgedeutet, aber das nicht. Auch ihm ging es immer nur um sein eigenes, jüdisches Volk. Seine eigene Lehrtätigkeit hat sich ja auf ein recht eng umgrenztes Gebiet in Judäa beschränkt, und gepredigt hat er zu seinen Landsleuten. Mit den Römern hatte er nichts zu schaffen. Pilatus könnte der erste Römer sein, zu dem er überhaupt geredet hat, und das anscheinend nur widerwillig. Als Adressaten für seine Predigten kamen sie nicht vor. Selbst zu den Nachbarvölkern hatte er eher ein problematisches Verhältnis, wie man vielleicht am besten sehen kann am Beispiel seiner Begegnung mit einer kanaanäischen Frau, die ihn um Hilfe für ihre Tochter bittet. Bei Matthäus laßt er sie erst mit den Worten abblitzen: "Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt." und vergleicht sie mit Hunden. Ihre extrem unterwürfige Antwort "Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen." stimmt ihn um, und er hilft ihr. Das läßt an Eindeutigkeit und Drastik nichts zu wünschen übrig. Er steht in dieser Hinsicht ganz auf dem Boden, den Moses gelegt hat.
Es war Paulus, der angefangen hat, die "Heiden", also die Nichtjuden, zu missionieren, man kann also allenfalls ihn dafür verantwortlich machen, daß es zu dieser Umdeutung kam. Paulus ist Jesus zu Lebzeiten nicht begegnet, er behauptete lediglich, den auferstandenen Jesus gesehen zu haben. Und Paulus' Lehre ist bei den Urchristen, die Jesus noch selbst gekannt hatten, keineswegs auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Ungefähr 15 Jahre nach Jesu Tod kam es zum Apostelkonzil, in dem diese unterschiedlichen Ansichten aufeinander geprallt sind. Paulus will von der Betonung des (jüdischen) Gesetzes weg und betont den Glauben, durch den letztlich auch der nichtjüdische Gläubige zum Erbe Abrahams wird, und somit den "echten" Juden ebenbürtig (siehe Galaterbrief). Aber auch das heißt nicht, daß man allen Menschen gegenüber gleichermaßen zur Mitmenschlichkeit verpflichtet wäre. Es wird immer noch ein Unterschied gemacht zwischen dem Gläubigen und dem Nichtgläubigen. Im Römerbrief heißt es zwar man solle auch seinen Feind speisen, wenn er hungert, aber nicht aus Mitmenschlichkeit, sondern weil man dadurch "feurige Kohlen auf sein Haupt sammelt". Ich würde das eher taktisches Kalkül nennen. Das alles gefiel den in Jerusalem verbliebenen Urchristen nicht, die auf die jüdischen Gesetze einschließlich der Beschneidung wert legten.
Es ist eine interessante Frage, warum die Urchristen letztlich unterlegen sind, und sich Paulus' Richtung durchgesetzt hat, obwohl er doch viel weiter von der ursprünglichen Lehre des Jesus weg war. So wie ich das sehe, dürfte das in erster Linie daran gelegen haben, daß Paulus' Anhänger kaum in Jerusalem waren, und folglich seine Richtung auch kaum von der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der schlußendlichen Vertreibung der Juden aus Jerusalem nach dem Bar-Kochba-Aufstand betroffen war. Die Urchristen aus Jerusalem konnten sich zwar weitgehend in Sicherheit bringen, z.B. nach Pella östlich des Jordans im heutigen Jordanien, aber da sie inhaltlich und vom Auftreten her eher zu den Juden gerechnet wurden, hatten sie auch eher Probleme, als von den Juden getrennte Gruppe wahrgenommen zu werden. Und die Juden hatten gerade nach dem jüdischen Krieg von 66-70, und dem Bar-Kochba-Aufstand um 135, eine ziemlich schlechte PR, um das mit einem heutigen Begriff zu bezeichnen. Die Anhänger von Paulus hatten da sicherlich weniger Mühe, sich als etwas grundlegend Anderes darzustellen, also nicht als eine jüdische Sekte, sondern als eine neue Religion, die mit dem Judentum nicht viel zu tun hatte.
Wo wir gerade beim jüdischen Krieg, und dem Bar-Kochba-Aufstand sind: Das sind meiner Ansicht nach perfekte Beispiele dafür, wie der religiöse Fanatismus auch 1200-1500 Jahre nach Moses auf den von ihm gelegten Grundlagen fröhliche Urständ feierte. Die Sache hatte sich schon zu Lebzeiten von Jesus zusammen gebraut und ist dann im jüdischen Krieg erst recht explodiert. Die Sikarier könnte man wohl ohne große Übertreibung zu Vorläufern heutiger Selbstmordattentäter erklären. Sie haben Leute auf offener Straße und am hellichten Tag abgestochen, um sich dann in der Menge zu tarnen. Damals müssen ähnliche Ängste umgegangen sein wie heute. Ihr Fanatismus war gegenüber den heutigen Gotteskriegern durchaus konkurrenzfähig, sie hatten bloß nicht die Waffen, die es heute gibt. In Masada kann man noch heute die Festung besichtigen, in der sich noch über Jahre nach dem eigentlichen Kriegsende ein fanatischer Trupp verschanzt hatte, bis sie schließlich kollektiven Selbstmord begingen, als die Erstürmung der Festung durch römische Truppen unmittelbar bevorstand. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand schließlich, in dem sich drei unterschiedliche jüdische Rebellenfraktionen noch bitter gegenseitig bekämpft haben sollen, als die Römer schon im Anmarsch waren, waren die Juden 500 Jahre lang aus Jerusalem verbannt, bis auf einen Tag im Jahr an dem sie den Verlust ihres Tempels beklagen durften (am heute noch bestehenden Mauerrest des Tempels).
Insoweit die jüdische Religion heute friedfertiger und in gewissem Sinn reformiert daher kommt, hat das zu einem wesentlichen Teil mit dem Schock zu tun, den sie in diesen Zeiten erlebt hat. Damals wurden die Juden in alle Himmelsrichtungen zerstreut und führten ein Leben in der Diaspora, bevor einige von ihnen 500 Jahre später nach der Eroberung durch die muslimischen Araber wieder nach Jerusalem zurückkehren konnten. Wenn man sich allerdings heute die Situation in Palästina ansieht, dann kann man kaum übersehen welchen Zusammenhang die jüdische Siedlerbewegung mit ihrem Vorbild Moses hat. Die radikalen Juden haben offenbar einen wachsenden Einfluß auf die Politik Israels, und sie sind eindeutig motiviert aus der alten biblischen Saga vom verheißenen Land, und von der göttlichen Verpflichtung, die fremden Völker daraus zu vertreiben. Man findet dort zwar heute keine Amalekiter, Kanaanäer und dergleichen mehr, die Siedler haben aber nicht die geringsten Probleme, die heutigen Palästinenser bzw. Araber damit zu identifizieren. Die Vorstellung ist offenbar, daß der Vernichtungs- bzw. Vertreibungs-Auftrag aus der Zeit von Moses auch heute noch gilt, und seine Erfüllung die Voraussetzung für das Kommen des Messias ist. Israelische Mehrheitsmeinung scheint das zwar bisher nicht zu sein, aber der Einfluß auf die konkrete Politik Israels ist unübersehbar, und hat auch so schon verheerende Folgen.
Aber auch die nicht so radikalen Juden sind bis heute ziemlich stark auf Abgrenzung aus. Das mag ihren Fortbestand in solch langen Zeiten der "Verbannung" und Zertreuung erst ermöglicht haben, aber ihre Religion ist dadurch eben auch bis heute nicht universalistisch. Man wird Jude in erster Linie durch Abstammung, und zwar über die mütterliche Linie. Mich irritiert das eher, denn ich sehe die Frage der Abstammung und Volkszugehörigkeit völlig getrennt von der Frage was jemand glaubt. Bei den Juden vermischt sich das bis fast zur Ununterscheidbarkeit. Ich frage mich da, was dann mit einem atheistischen Juden oder einem muslimischen Juden ist. Gibt's das? Wenn ja, ist es dann ein Jude oder nicht? Oder wird das unter den Teppich gekehrt? Irgendwie vorgesehen scheint dieser Fall nicht zu sein.
Der Islam schließlich, um die Runde voll zu machen, ist ebenfalls keine grundsätzliche Abkehr von den durch Moses gelegten Grundlagen, eher im Gegenteil. Die ursprüngliche Motivation scheint der reformatorische Impuls gewesen zu sein, die vorherrschenden Religionen des Judentums und Christentums von Irrlehren zu reinigen, die sie vom Ursprung entfernt haben. Beim Christentum wird insbesondere die zugegebenermaßen ziemlich obskure Trinitätslehre verhöhnt, die sich anscheinend nicht recht entscheiden kann ob sie nun monotheistisch sein will oder nicht. Mohammed scheint zumindest anfänglich vor allem an spirituell-religiöser Reinheit interessiert gewesen zu sein, an der Bekämpfung von Auswüchsen. Mit wachsendem Erfolg scheint er aber mehr und mehr dem Machtstreben und taktischen Zielen zu unterliegen. Manche "Offenbarungen" kommen seinen eigenen Interessen so offensichtlich zupaß, daß man unweigerlich denkt, er habe sie zu seinem Nutzen bestellt. Entsprechend wurden seine Interessen immer weltlicher, und die Botschaft militärisch-fanatisch.
Ich finde den Gedanken interessant, was wohl aus Jesus geworden wäre, wenn er nicht so früh gestorben wäre. Mohammed hatte seine erste Offenbarung in einem Alter als Jesus schon lange tot war. Jesus starb als er Anfang der 30er war, Mohammed wurde Prophet als Ergebnis einer Art Midlife-Crisis im Alter von etwa 40. Jesus hat nie erlebt daß seine Lehre nennenswerten Erfolg hatte. Er konnte zwar offenbar eine kleine Schar an Anhängern um sich versammeln, aber nennenswerte Macht konnte er nicht erringen, und kaum geriet er mit den Autoritäten in Jerusalem aneinander, wurde er auch schon hingerichtet. Er war in diesem Sinne Idealist bis zum Tod, und konnte gar nicht korrumpiert von Macht sein, denn dafür war nicht genug Zeit. Mohammed dagegen hatte zu seinen Lebzeiten so viel Erfolg, daß er mit seiner Anhängerschaft zu einem regionalen Machtfaktor wurde. Das hat deutliche Spuren in seiner Lehre hinterlassen. "Macht korrumpiert" lautet ein heutzutage wohlbekanntes bon-mot, vielleicht ist Mohammed ein Beispiel dafür. Hätte Jesus 30 Jahre länger gelebt, und eine ähnliche Erfolgsstory hingelegt wie Mohammed, ob er sich dann allmählich eine ähnliche Haltung zugelegt hätte? Wir werden es wohl nie erfahren. Im Ergebnis haben die Christen eine Religion, die auf einen (noch fast) jugendlichen Idealisten zurückgeht, und dann von Paulus stark verändert wurde, während der Islam das Erbe eines machtbewußten Schlachtrosses ist, der mit ähnlichem Idealismus gestartet war, aber unter dem Eindruck seines eigenen Erfolges zunehmend zum Eroberer (und in gewissem Maß auch Narzissten) wurde.
Entsprechend unterschiedlich war auch die weitere Entwicklung der neuen Religionen. Das Christentum brauchte 300 Jahre, um auch nur annähernd zu einer dominanten Position anzuwachsen. Schon zu Mohammeds Lebzeiten konnte sich der Islam über fast die ganze arabische Halbinsel verbreiten, und innerhalb weniger Jahrzehnte danach breitete er sich bis zum heutigen Tunesien und Afghanistan aus. Jerusalem wurde gerade mal 5 Jahre nach Mohammed's Tod erobert. Die Ausbreitung ging auf militärischem Weg, also nicht über das was wir heute Mission nennen würden, sondern über Eroberung. Das Christentum war in den ersten 300 Jahren eher eine Untergrundbewegung, die sich gegen ein gewisses Ausmaß an Feindseligkeit und Unterdrückung durchsetzen mußte. Erst als eine gewisse Machtposition erreicht war, fand weitere Verbreitung des Christentums auch in militärischer Form statt.
Auch das hat seine Folgen bis in die heutige Zeit. Die Idee des "Djihad" hatte von vorn herein eine militärische Facette, auch wenn man den Begriff genauso auch als einen inneren Kampf auffassen kann. Im Grunde bedeutet er beides, der innere und äußere Kampf gehen im Grunde Hand in Hand. Die Form der Verbreitung, die im Christentum als Mission daher kommt, also das Aussenden von Missionaren in die Fremde, um dort zu predigen und Anhänger zu gewinnen, ist für den Islam eher untypisch. In jüngerer Zeit gibt es diese Form der Mission aber verstärkt von den Salafisten aus Saudi Arabien, von wo auch viel Geld in den Bau von Moscheen im Ausland fließt. Das betrifft gar nicht so sehr uns hier in Europa, obwohl auch hierhin Gelder fließen, sondern wesentlich mehr noch die Förderung von salafistischen Gemeinden in anderen muslimischen Ländern, z.B. im Maghreb. Wer sich von salafistischen Umtrieben hier in Deutschland beunruhigen läßt, der sollte sich vielleicht klar machen, daß hier das gleiche Vorgehen vorliegt, wie es die christlichen Kirchen schon sehr lange in anderen Ländern betrieben haben. Die Lehre ist zwar sehr verschieden, das Vorgehen als solches könnten die Saudis aber durchaus von der katholischen Kirche abgekupfert haben. Vielleicht kann man sich so ein klein wenig vorstellen, welchen Effekt die missionarischen Bemühungen aus unseren Gefilden in anderen Teilen der Welt ausgelöst haben könnten.
Es ist nicht zu übersehen, daß auch heute der Begriff des Djihad von radikalen Moslems im militärischen Sinn verstanden wird. Und sie können sich darin durchaus auf Mohammed berufen. Die in diesem Zusammenhang von vielen Moslems geäußerte Überzeugung, es gehe beim Djihad um eine innere Anstrengung und Mission, nicht um äußere Eroberung, ist nicht mit Mohammeds Vorbild in Einklang zu bringen. Mohammed selbst und seine Nachfolger haben den Islam militärisch verbreitet, und genau das wollen die radikalen Moslems ebenfalls. Sie sehen diese Ur-islamische geschichtliche Phase als die Blütezeit des Islam, die es gilt wiederzubeleben. Die Vorstellung ist, daß der so wahrgenommene Niedergang des Islam und der Aufstieg des Christentums letztlich damit zusammen hängt, daß man im Islam verweichlicht ist, sich zerstritten hat, und die ursprünglichen Ziele aus den Augen verloren hat. Das meinen nicht bloß islamische Fundamentalisten, damit kann man auch bei eher gemäßigten Moslems punkten, wie man in der Türkei sehen kann, wo sich ziemlich viele Leute von der Aussicht auf einen Wiederaufstieg eines osmanischen Reiches begeistern lassen, die man beim besten Willen nicht den islamischen Radikalen zuordnen kann. Wenn man sich zugleich davon überzeugen läßt, daß das westliche Christentum degeneriert ist und den Zenit überschritten hat, dann kann man auf die Idee kommen daß die Gelegenheit günstig ist.
Auch hier ist klar, denke ich, daß es nicht um die egalitäe Akzeptanz und Gleichbehandlung aller Menschen geht, unabhängig davon was sie glauben. Der Islam ist da ziemlich klar: Es gibt keine Gleichberechtigung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Gläubigen sitzen in der ersten Reihe, die Ungläubigen werden toleriert, aber nicht zu gleichen Konditionen: Sie zahlen extra Steuern und haben nichts zu sagen. Vom Unglauben zum Glauben gibt's nur eine Einbahnstrasse: Rein geht ziemlich einfach, raus gar nicht. Die Abgrenzung ist nicht auf Volkszugehörigkeit oder Abstammung gegründet, aber vielleicht gerade deswegen so strikt. Zum Teil ist das wie der Kunstgriff von Paulus, der die symbolische Abstammung von Abraham, also die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk, vom Glauben abhängig macht statt von der ethnischen Abstammung, der Unterschied zu Paulus liegt aber darin, wie man zu diesem Glauben kommt und welche Rolle dabei die freie Wahl hat.
Der Islam als die späteste Religion verwirklicht dabei den strengsten Monotheismus. Wo es bei Moses ein Monotheismus der Treue ist (andere Götter mag's zwar geben, sie sind für das auserwählte Volk aber tabu), ist er für die Christen ein durch die Trinität verwässerter existenzieller Monotheismus (es gibt keinen anderen Gott, aber der den es gibt existiert in drei verschiedenen Inkarnationen). Bei den Moslems schließlich gibt es nur einen Gott, und zwar nur in einer Form, die man sich aber nicht vorstellen kann.
Dabei wird klar daß es auch den Moslems sehr um Treue geht, denn Abfall vom Glauben wird drakonisch bestraft. Ginge es hier nur um wahr oder falsch, dann könnte man den Unglauben auch ganz entspannt sehen: Unglauben wäre ein Irrtum, den Schaden daraus hätte nur der Irrende, einen Gläubigen könnte das kalt lassen. Man bräuchte keine weltlichen Strafen oder Sanktionen, und könnte es Gott selbst überlassen, was er damit anzufangen gedenkt. Die extrem harte muslimische Reaktion auf den Abfall vom Glauben deutet darauf hin, daß es hier eigentlich um Untreue geht, und eben nicht um Wahrheit. In diesem Aspekt trifft sich die Sache wieder mit Moses. Der Unterschied besteht nur darin, wie man das auserwählte Volk definiert. Moses definiert es über den "Bund", der einen Volks-spezifischen Gottesglauben mit dem Versprechen auf ein verheißenes Land verbindet. Paulus spricht von einem "neuen" Bund, der über den Glauben konstituiert wird ohne daß es einer bestimmten Volkszugehörigkeit bedürfte. Mohammed unterscheidet sich in dieser Hinsicht nur wenig von Paulus.
Für mich wirken alle drei Religionen nicht wirklich universalistisch, denn alle fallen letztlich auf Abgrenzung zurück. Alle drei betonen auf ihre Weise den Unterschied zwischen denen, die dazugehören, und denen die außen vor sind. Die Kriterien dafür unterscheiden sich in Grenzen, die Konsequenzen in der Praxis sind aber über die Geschichte hinweg ziemlich ähnlich, und das heißt ziemlich gewalttätig. Ob man Mensch ist oder nicht spielt in der Praxis erheblich weniger Rolle als ob man dazugehört oder nicht. Der, der nicht dazugehört wird handfester Diskriminierung ausgesetzt. Und wird dafür selber verantwortlich gemacht.
Selbst die christliche Reformation, die dieses Jahr ihr 500stes Jubiläum feiert, hat daran allenfalls indirekt etwas geändert. Auch Luther hat nichts prinzipiell anderes als Mohammed im Sinn gehabt, nämlich die Reinigung des Glaubens von Auswüchsen und Korruption, die er in der römisch-katholischen Kirche sah. Anders als Mohammed hat er das Individuum und seine ganz eigene Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt gestellt. Damit hat er dem Individuum zu einer geistigen und geistlichen Freiheit verholfen, die ihm selber sehr schnell ungeheuer wurde. Seine Einstellung den Bauernaufständen gegenüber ist ja bekannt, und auch seine Einstellung den Juden gegenüber gereicht ihm aus heutiger Sicht nicht zur Zierde. Hätte er erlebt, wie in seiner Nachfolge das freie Denken den Unglauben, sprich Atheismus befördert hat, hätte er bestimmt noch viel mehr mit seinem Erbe gehadert. Seine Tragik ist, daß man nicht zugleich das freie Denken und die individuelle Verantwortung betonen kann, und andererseits dagegen sein kann wenn eben diese Freiheit dann Ergebnisse hervorruft, die weit über das hinaus gehen, was man gutheißen mag. Auf diese Weise kann man zugleich dankbar sein für seine Leistung, und froh, daß man ihm heute nicht mehr begegnen muß.
Luther hat so den Humanismus möglich gemacht, aber er hätte ihn in der Form wie er sich dann herausgebildet und entwickelt hat, keinesfalls gut geheißen. Und es ist der Humanismus, dem wir das verdanken was man heute die abendländischen Werte, bzw. die abendländische Kultur nennt. Das Christentum einschließlich seiner protestantischen Ausprägung war dabei teils Katalysator, teils Hemmung, aber unter dem Strich mehr Hemmung. Das gilt bis heute.
Ich weiß nicht ob es denkbar ist daß dem Islam etwas Ähnliches widerfährt. Die Situation ist anders, und ich weiß nicht welche Umstände zusammen kommen müssen, damit sich der Islam so weit reformiert daß er den Atheismus zulassen kann. Das kann ja das Christentum kaum. Dabei geht es um nichts weniger. Gerade wenn es darum gehen soll, daß mehrere Religionen friedlich zusammen leben sollen, auch mit Ungläubigen, dann müssen alle Religionen so weit kommen daß sie sich nicht wirklich ernst nehmen, und zugeben können daß andere Ansichten nicht nur existieren, sondern legitim sind und gleichberechtigt, und daß ziviles Recht über den religiösen Vorschriften steht. Ich sehe nicht wie das mit diesen drei Religionen gehen soll. Mit dem Islam am wenigsten, aber auch die anderen beiden Religionen sind noch nicht wirklich so weit.