Der vor wenigen Jahren verstorbene britisch/amerikanische Autor und Journalist Christopher Hitchens sprach wiederholt vom Gegensatz zwischen dem wörtlichen Verstand, und dem ironischen Verstand als dem Gegensatz, der letztlich dem religiösen Fundamentalismus zugrunde liege. "The literal mind does not understand the ironic mind, and sees it always as a source of danger." Bei diesem Hitchens-Zitat ging es um Salman Rushdie, und die vom islamischen geistlichen Oberhaupt und iranischen Revolutionsführer Ajatollah Khomeini 1989 ausgesprochenen Fatwa gegen Rushdie, die ihn dazu zwang, ein Jahrzehnt lang unter Polizeischutz im Untergrund zu leben. Wie wahrscheinlich jeder weiß ist diese Fatwa ein Mordbefehl an alle islamischen Gläubigen, und wie vielleicht nicht jeder weiß ist sie bis heute nicht zurückgenommen worden. Auf den Kopf von Rushdie sind nach wie vor mehrere Millionen Dollar Kopfgeld ausgesetzt. Was das für das Leben nicht nur der betroffenen Person selbst, sondern auch seiner Familie und näheren Umgebung bedeutet, kann man in seinem biographischen Roman "Joseph Anton" nachlesen.
Nun mag man darüber streiten, ob und inwieweit so eine Fatwa für islamische Gläubige verbindlich ist oder nicht. Es dürfte niemanden überraschen, daß sich schon einmal Schiiten und Sunniten darüber uneins sind. Das spielt aber wenig Rolle, denn es reicht schon wenn sich ein kleiner Prozentsatz an Hardlinern daran hält. Man sollte erwarten, daß normal denkende Menschen so etwas kategorisch ablehnen - hier soll jemand ermordet werden, weil er einen Roman geschrieben hat. Aber wenn die Religion im Spiel ist, dann gibt es erfahrungsgemäß genügend Anhänger, deren mitmenschliche Empatie durch so eine Aufforderung komplett neutralisiert wird. Genug Leute jedenfalls, um jemanden in den Untergrund zu zwingen. Und in diesem Fall noch mehr: Rushdie's japanischer Übersetzer wurde ermordet. Sein norwegischer Übersetzer hat einen Anschlag schwer verletzt überlebt. Unruhen in mehreren Ländern der islamischen Welt forderten ingesamt um die 150 Tote. Auf diverse Buchläden wurden Anschläge verübt.
Bei den Satanischen Versen, wie auch jetzt bei Charlie Hebdo, und schon beim "Karikaturenstreit" um das dänische Blatt "Jyllands-Posten", geht es um Satire, im Falle von Rushdie sogar um eine recht milde Form davon, wie jeder bestätigen wird, der das Buch schon gelesen hat. Karikaturen wie Bücher sind geschrieben und gemeint für den ironischen Verstand. Nur wer Ironie versteht, und zu schätzen weiß, wird mit ihnen etwas anfangen können. Der "wörtliche Verstand" fühlt sich davon bedroht.
Diese grundsätzliche Antagonie findet man auch im Kleinen. Wer sich schon in kontroverse Debatten in Internetforen gestürzt hat, dem wird nicht verborgen geblieben sein, daß man mit Ironie-Smilies geradezu um sich werfen kann, und es gibt trotzdem Leser, denen die ironische Seite eines Beitrags völlig unzugänglich bleibt. Deren Antwort darauf legt bloß, daß sie alles wörtlich genommen haben. Und sie haben es nicht nur wörtlich genommen, sie haben es oft auch übel genommen und inszenieren eine Beleidigungsnummer.
Was diese Leute nicht verstehen, und wovor sie sich sogar fürchten, das werden sie sicher nicht wertschätzen. Würde man diesen Leuten nachgeben, man könnte fürderhin alles Ironische, jede Stichelei, jede Sottise, jeden Witz und jede Entlarvung vergessen. Mit anderen Worten: Jede geistige Unabhängigkeit und Freiheit. Wer nur noch Gedanken äußern darf, die niemanden aufregen, der darf nicht mehr frei denken. Die kulturelle Ödnis, die daraus erwachsen würde, möchte ich mir gar nicht vorstellen.
Wer schon in totalitären Zuständen gelebt hat, der wird bestätigen können daß dort die Bedeutung von Ironie noch wächst. Ironie ist Subversion. Sie ist dort, wo der wörtliche Verstand herrscht, die einzige Möglichkeit, eine Idee in der zweiten Bedeutungsebene zu verstecken, in der Hoffnung daß sie von den Trägern der Macht und des wörtlichen Verstandes nicht dechiffriert wird, aber von den Adressaten, die mit ironischem Verstand begabt sind, sehr wohl verstanden wird. Ironie wird in totalitären Umständen zur Überlebensstrategie für Leute mit einem aktiven Verstand. Hitchens selbst illustriert das mit einer Anekdote aus den Zeiten des zweiten Weltkriegs, die ich hier frei nacherzähle:
Der britische Schriftsteller P. G. Wodehouse wurde bei der deutschen Invasion Frankreichs 1940 interniert, und er bekam schließlich den Auftrag, beim deutschen Rundfunk in Berlin englischsprachige Propagandasendungen für die USA zu machen, die damals noch nicht in den Krieg eingetreten waren. Goebbels' Propagandaministerium erhoffte sich offenbar einen Einfluß auf die öffentliche Meinung in den USA, die sie vom Kriegseintritt abhalten helfen könnte. Die erste Sendung begann Wodehouse mit den (von mir übersetzten) Worten:
"Junge Menschen am Beginn ihres Lebens fragen mich oft: 'Wie wird man ein Internierter?' Nun, da gibt es diverse Möglichkeiten. Meine eigene Methode war, eine Villa in Nordfrankreich zu erwerben, und darauf zu warten daß die deutsche Armee vorbei kam. Das ist wahrscheinlich der einfachste Plan. Du kaufst die Villa, und die deutsche Armee erledigt den Rest."Hitchens fährt fort: Jemand - hoffentlich Goebbels selbst - müsse das wohl abgenickt haben, als eine Art Werbung für deutsche Aufgeschlossenheit. Das "Lustige" daran sei, daß Wodehouse nach seiner Rückkehr nach Großbritannien dafür Ärger ohne Ende wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen gekriegt hat. Und das von einer Nation die auf ihren Humor stolz ist.
Man sieht, daß diese Auseinandersetzung zwischen dem wörtlichen und dem ironischen Verstand überall stattfindet. Es ist keine Auseinandersetzung zwischen dem Islam und dem Abendland, oder zwischen den Religionen. Der wörtliche Verstand ist in letzter Konsequenz totalitär, der ironische freiheitlich. Das ist die eigentliche Frontlinie in dieser Auseinandersetzung. Sie geht durch alle Gesellschaften, ob sie nun säkular oder religiös geprägt sind, und geht letztlich darum wie wir leben wollen. Die Frage ob Gott nun dreifaltig oder einfaltig oder einfältig ist, ob der Lieblingsprophet nun der letzte war oder der vorletzte oder ein falscher, ist demgegenüber ungefähr so wichtig wie die Frage, wieviele Engel auf eine Nadelspitze passen.
Das heißt daß die Satire, die Ironie, die Karikatur im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen. Direkt an der Frontlinie. Es handelt sich nicht um gelegentlich amüsante, gelegentlich ärgerliche Überflüssigkeiten, auf die man mit einem Achselzucken verzichten könnte ("na gut, wenn's zu viele Leute aufregt, dann lassen wir's eben, vielleicht haben sie ja Recht"). Wer sich den Spott abmontieren läßt, gibt Elemente der freiheitlichen Substanz auf, die für unser Leben zentral sind. Diesen Spott haben die Betonköpfe, Dummschwätzer, Humorlosen und Feiglinge in unseren eigenen Reihen ebenso nötig wie irgendwelche religiösen Wirrköpfe, denn wenn wir denen das Feld überlassen würden, dann käme ungefähr die gleiche geistige Wüste heraus. Ein gedeihliches Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften gelingt nicht dann, wenn man auf die spezifischen Empfindlichkeiten von allen Rücksicht nimmt, und sich innerlich selbst zensiert, sondern wenn man von niemandem die Empfindlichkeiten als sakrosankt akzeptiert.
Dazu wäre es äußerst hilfreich, wenn wir endlich Schluß machen würden mit der Idee, die religiösen Gefühle der Menschen verdienten besonderen Schutz. Ich wüßte wirklich nicht mit welchem Grund man da die religiösen Gefühle über irgendwelche anderen Gefühle stellt. Sollte dann nicht auch das Gerechtigkeitsgefühl besonders geschützt werden? Oder das Sicherheitsgefühl? Ich als Atheist habe zwar keine religiösen Gefühle, aber jede Menge anderer Gefühle, die aus meinem Empfinden genauso schützenswert wären, schon allein deswegen weil sie mindestens genauso "edel" sind. Wer von den Leuten, die sich so über angebliche Blasphemie aufregen, hat denn Hemmungen, wenn es darum geht auf den Gefühlen von Atheisten herumzutrampeln? Warum sagen wir es also nicht gerade heraus: Gefühle genießen in einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft keinen Schutz, auch religiöse nicht. Das gehört so, weil es der unvermeidliche Nebeneffekt einer viel wichtigeren Sache ist: Die Freiheit der Meinungsäußerung.
Wenn wir religiöse Gefühle als schützenswert akzeptieren, dann werden, wie man in Anfängen schon jetzt sehen kann, alle möglichen Dinge, die uns völlig harmlos vorkommen, plötzlich als blasphemisch gebrandmarkt werden. Die religiösen Eiferer sind sehr schnell dabei, diesen Schutz, den sie einem Anderen nie zugestehen würden, für sich zu nutzen. Irgendwann wird die bloße Existenz von "Ungläubigen" schon als Provokation empfunden werden, vor der man sich schützen muß. Wir können nur verlieren, wenn wir dem nachgeben, denn es wird da keine Grenze geben.
Besonders ärgert mich dabei das Argument, die Karikaturisten, oder wer auch immer gerade Opfer dieser Eiferer wurde, seien für Ihr Schicksal selber verantwortlich, denn sie hätten ja gewußt mit wem oder was sie es zu tun haben, und demzufolge selbst heraufbeschworen, was ihnen nun widerfahren ist. Ein widerwärtiges Argument. Ja, die Leute wußten womit sie es zu tun haben. Gerade deswegen haben sie ihre satirische Feder gespitzt! Weil es nötig ist und in unser aller Interesse. Fast aller. Dieses "Selber Schuld" Argument ist nicht nur feige, sondern auch ignorant. Da werden die Träger des wörtlichen Verstandes über alle "Kulturgrenzen" hinweg zu Komplizen bei der Abschaffung der Ironie, und mit ihr des freien Geistes.
Ich kann dieses Thema nicht abschließen ohne auf diverse weitere Abstrusitäten und Verrenkungen hinzuweisen. Beispiel Innenminister de Maizière, der der SZ ein Interview gegeben hat, in dem er folgenden Satz gesprochen haben soll: "Terroristische Anschläge haben nichts mit dem Islam zu tun." Ein Anschlag, der von den Tätern selbst mit der Verteidigung der Ehre des Islam und seines Propheten gerechtfertigt wurde, soll also mit dem Islam nichts zu tun haben. Das ehrenwerte Motiv dahinter ist natürlich, den Unterschied aufzuzeigen zwischen dem "normalen Islam" und seinen vielen friedlichen Anhängern auf der einen Seite, und den relativ wenigen islamistisch motivierten Dschihadisten auf der anderen Seite. So berechtigt das ist, so untauglich und dumm ist es, jeden Zusammenhang pauschal abzustreiten. Natürlich gibt es einen Zusammenhang, das ist offenkundig! Genauso gut könnte man abstreiten, daß es einen Zusammenhang zwischen der Hexenverbrennung und dem Christentum gegeben habe.
Was de Maizière da "terroristisch" nennt (in diesem Zusammenhang ausnahmsweise sogar mal zurecht), geht ganz offen zurück auf eine wörtliche Auslegung des Koran, der heiligen Schrift des Islam. Die Verlautbarungen der Täter hier wie in etlichen anderen solchen Fällen lassen da gar keine Zweifel zu. Das ist noch nicht einmal ein spezifisches Problem des Koran, denn die Bibel enthält ebenfalls diverse Stellen, mit denen sich solche Aktionen rechtfertigen lassen, wenn man sie wörtlich auslegt. Das ist auch keineswegs theoretisch, denn es gibt sehr viele geschichtliche Beispiele dafür, und es gibt auch in der Gegenwart durchaus größere Gruppen von Leuten, die dieses wörtliche Verständnis vertreten und durchzusetzen versuchen. Manche christliche Gruppierungen versuchen aktiv, die Zustände der Apokalypse herbeizuführen, um die Voraussetzungen für den "jüngsten Tag" zu schaffen. Und ähnlich gesinnte fundamentalistische Juden in Israel glauben, daß der Messias kommen würde, wenn sie nur endlich das gesamte heilige Land unter ihre Kontrolle gebracht und die Ungläubigen daraus vertrieben haben. Diese Leute sehnen den Weltuntergang herbei und wollen ihn auslösen helfen. Es gibt keinen Grund zu hoffen, sie meinten es nicht ernst.
Alle diese Wahnvorstellungen speisen sich aus dem, was ein wörtlicher Verstand aus dem Steinbruch der Motive aus den religiösen Büchern herausliest. Ein Verstand, der zur Ironie, zur Metapher, zur Kritik unfähig ist, und sie als Bedrohung empfindet. Die religiösen Schriften und Mythen liefern die Zutaten, aus denen die Fundamentalisten ihr giftiges Gebräu zubereiten. Da kann man nicht behaupten, das eine hätte nichts mit dem anderen zu tun.
Andere kochen aus der Not ihr eigenes Süppchen: Marine le Pen fordert nun ein Referendum über die Todesstrafe in Frankreich. Was für eine ekelerregende Verhöhnung der Opfer beim Charlie Hebdo das doch ist! Ich bin mir sicher daß gerade auch unter den Mitarbeitern dort und dem sozialen Umfeld niemand zu finden ist, der das befürworten würde, selbst im Angesicht des Verlustes. Die völlige Gewissenlosigkeit der Frau le Pen wird noch dadurch bekräftigt, daß die Todesstrafe gegen fundamentalistische Attentäter völlig wirkungslos wäre, weil die üblicherweise sowieso mit dem Leben abgeschlossen haben, und ihren Tod als Märtyrer sogar sehenden Auges herbeiführen! So blöd kann auch eine Frau le Pen nicht sein um das zu übersehen. Für einen Möchtegern-Märtyrer ist die Aussicht auf eine langjährige Haftstrafe sicher weitaus weniger attraktiv als ein schneller Tod. Dieser Appell an die niederen Instinkte des eigenen Wählervolks kann allenfalls die eigenen Wahlchancen zum Ziel haben, aber sicher nicht den Schutz der Bevölkerung vor Gewalttaten.
Wie man sieht ist die Satire dringender nötig denn je. Gegen alle Träger eines wörtlichen Verstandes und ihre Wasserträger, bei uns wie anderswo. Gegen de Maizière ebenso wie gegen le Pen, gegen islamistische Fundamentalisten genauso wie gegen jüdische oder christliche. Besonders gegen die religiös motivierten Fundamentalisten, denn die bringen im Moment die größten Probleme. Was sage ich: im Moment? Vermutlich die meiste Zeit der letzten paar tausend Jahre! Wir sollten bei all dem nicht vergessen: Wir leben immer noch in ausgesprochen guten Zeiten! Wir leben im Durchschnitt über 70 Jahre, wann hat es das je gegeben? Wir sollten das verteidigen so lange es geht, den freien Geist verteidigen, der das alles ermöglicht.
Hitchens sagt es am besten, zu dieser Zeit schon im Angesicht des eigenen Todes:
"Unsere Waffen sind der ironische Verstand gegen den wörtlichen: Der aufgeschlossene gegen den leichtgläubigen; das mutige Streben nach Wahrheit gegen die ängstlichen und unterwürfigen Kräfte, die unseren Nachforschungen Grenzen setzen wollen (und die sich nicht entblöden, zu behaupten wir hätten schon alle Wahrheit, die wir brauchen). Vielleicht vor allem anderen bejahen wir das Leben gegenüber den Todeskulten und dem Menschenopfer, und fürchten uns nicht vor dem unvermeidlichen Tod, sondern viel mehr vor einem menschlichen Leben, das eingeengt und verdreht ist durch das erbärmliche Bedürfnis nach stumpfsinnigen Lobgesängen, oder dem trostlosen Glauben daß die Naturgesetze unser Gejammer und unsere Beschwörungen erhören."