Vor ungefähr sechs Wochen sprachen Neil deGrasse Tyson und Richard Dawkins über das Thema "The Poetry of Science" in der Howard University. Wer Englisch gut genug versteht wird am Video sicher seine Freude haben.
Die jüngste Auseinandersetzung mit Dr. Holger Kaletha, speziell seine Antwort auf meinen früheren Blog-Artikel, hat mich wieder an dieses Gespräch erinnert. Das ganze Gespräch ist interessant, aber in unserem Zusammenhang speziell relevant ist die Passage ab etwa Minute 14, wo Tyson über den Bezug zwischen der Mathematik, unseren Sinnen, und der Struktur der Welt redet. Über die Art und Weise wie Wissenschaft zu ihren Erkenntnissen kommt, und was das mit unseren Sinnen und unserer Wahrnehmung zu tun hat:
"You train yourself to abandon your senses, because you recognize how they can fool you into thinking that one thing is true that is not. You abandon them, you use your tools to do the measuring and say: OK, that's the reality! Then you make a mathematical model of that, that you can manipulate logically - 'cos math is all about the logical extension of one point to another - and then you can make new discoveries about the world that, frankly, you'll just have to get used to. [...] No longer are you justified saying: That idea in science is not true, because it doesn't make sense. Nobody cares about your senses! [...] It's math that allows you to take these incremental steps beyond the capacity of your senses, and perhaps even the capacity of your mind."Genau das liegt auch an der Wurzel der Auseinandersetzung um die Funktion des CD-Spielers und darum welche Effekte im Zusammenhang mit CD-Rohlingen möglich sind und welche nicht - dem auslösenden Thema für die Kontroverse um Kaletha. Es liegt überhaupt an der Wurzel der Auseinandersetzung zwischen den "Subjektivisten" und den "Technikern".
Ein CD-Spieler ist ein technisches Konstrukt dessen Funktionsweise seine Wurzeln in mathematischen Modellen hat. Die CD speichert Zahlen, keine Klänge oder Musik. Eben weil sie Zahlen speichert kann man das gleiche Medium auch als Datenspeicher für Computer benutzen. Daß man Klänge und Musik als eine Folge von Zahlen ausdrücken und dergestalt speichern kann ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit; es ist ein Ergebnis einer ziemlich umfangreichen Forschungstätigkeit, in deren Verlauf nicht nur das Hörvermögen untersucht werden mußte, sondern insbesondere auch mathematische Verfahren und Modelle zur Repräsentation von Schwingungen und von Information gefunden werden mußten. Auf diesem Schatz von Erkenntnissen fußt die Funktionsweise einer CD und des dazugehörigen Abspielgerätes.
Ohne diese mathematischen Modelle kann man die CD letzlich nicht verstehen, genausowenig wie man die atomare Welt ohne die Quantentheorie verstehen kann, oder die Astrophysik ohne die allgemeine Relativitätstheorie, die beide ebenfalls mathematische Modelle sind. Und in allen diesen Fällen muß man zum richtigen Verständnis der Funktion seine Sinne aufgeben, denn die Wahrheit folgt aus der Anwendung der Mathematik, und der dazugehörigen Werkzeuge, und nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung.
Wer diese Modelle und Methoden tief genug aufnimmt und darin trainiert ist, für den können sie zur zweiten Natur werden, und der Umgang damit wird intuitiv, das heißt er macht sich nicht mehr bewußt daß es solche Modelle sind und die Modelle und Werkzeuge werden zu einer Art Erweiterung seiner Sinne und Fähigkeiten. So kann es passieren daß man sich bei der Wiedergabe einer CD ins Geschehen hineinversetzt fühlt, oder es kann geschehen daß man beim Blick auf ein Oszilloskopbild intuitiv auf einen Fehler aufmerksam wird ohne ihn bewußt über das mathematische Modell hergeleitet zu haben. Es ändert aber nichts daran daß die Grundlage dafür erst einmal das mathematische Modell ist. Wenn einen dieses intuitive Gefühl dazu verleitet zu glauben die Sinne hätten die Oberhand über die Mathematik gewonnen ist man auf dem Holzweg.
Fliegen kann sich intuitiv anfühlen, man steuert das Flugzeug ohne zu denken, aber das heißt nicht daß man selbst fliegt, denn es ist immer noch das Flugzeug das fliegt, und es braucht immer noch die mathematischen Modelle um eins zu bauen oder um seine Funktion zu verstehen.
Der Subjektivist, der aufgrund eines gehörten Effekts sich dem Techniker überlegen fühlt, der die Modelle kennt auf denen die Funktion der Hifi-Anlage beruht, ist daher nicht etwa der Wahrheit näher, sondern ganz einfach auf einem illusionären Egotrip. Das wird auch nicht dadurch besser daß es "Techniker" gibt die mit ihrem Wissen hochstapeln. Die "Wahrnehmungs"-Hochstapelei stellt die meist locker in den Schatten.
Für diesen Zusammenhang zwischen mathematischen Modellen und der Realität, und der Untauglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung für die Wahrheitsfindung gerade in technischen und wissenschaftlichen Dingen, gibt es heutzutage derartig viele schlagende Beispiele daß man schon völliger Realitätsverweigerer sein muß um das nicht zu sehen.
In der Epoche von Galilei hat es die allermeisten dieser schlagenden Beispiele noch nicht gegeben. Die über Jahrhunderte etablierte Wissenschaft beruhte auf Aristoteles, und stellte die philosophischen Prinzipien über die Naturbeobachtung. Die philosophischen Prinzipien, das heißt insbesondere auch die Mathematik. Wie wir eben gesehen haben ist die tatsächlich wichtiger und näher an der Realität als die Wahrnehmung, insofern war Aristoteles tatsächlich ein Fortschritt über die ältere Methode, die auf der direkten Wahrnehmung beruhte. Das Mißtrauen, das man zu Zeiten von Galilei gegen die direkte Wahrnehmung hatte, war berechtigt, und deswegen ist die Polemik gegenüber denen die sich von einem Blick durch das Fernrohr nicht überzeugen ließen, oder den gar nicht erst getan haben, auch so billig. Das ist eine Polemik aus der bequemen Position der Nachwelt, die den Luxus besitzt zurückblicken zu können.
Das Vertrauen auf die direkte Wahrnehmung ist älter als Aristoteles und die Mathematik. Es ist die primitivere Methode der Wahrheitsfindung. Sich auf die Mathematik zu stützen ist demgegenüber ein Fortschritt, und als solcher der Anfang der Wissenschaft. Die Erkenntnis daß die unmittelbare Wahrnehmung eben nicht der bessere Weg zur Wahrheitsfindung ist geht auf die griechische Antike zurück und ist eine grundlegende Kulturleistung.
Das heißt nicht daß die pure Mathematik automatisch korrekte Beschreibungen der Realität liefert. Man kann vor diesem Hintergrund aber vielleicht immerhin verstehen warum diejenigen Gelehrten, die sich dieses Fortschritts bewußt waren, sich dergestalt verrannt haben daß sie Postulate mathematischer Schönheit, wie z.B. der Kreisbewegung, für so "real" gehalten haben daß sie die Verifizierung für unnötig gehalten haben.
Galilei hat nicht dem alten Prinzip der unmittelbaren Wahrnehmung wieder zum Durchbruch verhelfen wollen. Das wäre auch ihm als Rückschritt erschienen. Er hat etwas ganz anderes getan, nämlich er hat das Prinzip in die Wissenschaft eingeführt daß man Theorien über die Realität experimentell verifizieren muß. Diese experimentelle Verifizierung hat sehr wenig mit der Wahrnehmung als solche zu tun, außer daß man einen Weg finden muß wie man einen Aspekt der Realität, der für so ein Experiment wichtig ist, für den Menschen beobachtbar macht.
Dieses "beobachtbar machen" bedeutet, daß man ein Instrument bauen muß was einen Effekt in die menschliche Wahrnehmbarkeit überführt. Für Galilei war sein Fernrohr so ein Instrument. Für den Konstrukteur von Hifi-Geräten ist das Oszilloskop oder der Audio-Analysator so ein Instrument. Ein Übersetzer zwischen solchen Aspekten der Realität die der direkten Wahrnehmung nicht zugänglich sind, und irgend einem menschlichen Sinn.
Bei allen diesen Instrumenten gilt daß die unmittelbare Wahrnehmung dessen was sie zeigen keinen Sinn ergibt ohne daß es dazu vorgängig ein Modell, eine Theorie gab, anhand derer die "übersetzte" Beobachtung interpretiert werden kann. Galileis Blick durch das Fernrohr wäre ohne Kopernikus' Theorie sinnlos gewesen und hätte keinerlei Erkenntnisgewinn erbracht. Nur weil diese Theorie bereits im Raum stand konnte Galilei das was er da durch das Fernrohr sah als etwas Bedeutsames und Aussagekräftiges erkennen. Als ein Argument, ein Indiz, oder sogar als einen Beweis im Streit der Welterklärungsmodelle.
Daß ihm viele zu dieser Zeit nicht gefolgt sind ist daraus ebenfalls verständlich. Um so ein Indiz überhaupt ernst genug zu nehmen muß man zuvor zur Überzeugung gekommen sein daß die "alte" Theorie in der Krise ist, daß sie also nicht genug Erklärungsvermögen für die tatsächlichen Verhältnisse hat. Das werden naturgemäß nicht alle gleichzeitig sein.
Um aber die "alte" Theorie als in der Krise befindlich erkennen zu können muß man ihre Implikationen verstehen. Man muß wissen an welchen Stellen ihre Vorhersagen mit der Realität im Widerspruch stehen. Und um das zu wissen muß man die alte Theorie gut kennen, denn wenn dieser Widerspruch durch bloße Anschauung schon offensichtlich wäre dann gäbe es diese Theorie schon längst nicht mehr.
Ich hoffe ich habe klar machen können warum es ein allzu billiger Vorwurf ist, wenn man die Leute aus Galileis Zeit dafür schmäht daß sie beim Blick durch's Fernrohr nicht gleich ihre Meinung geändert haben, oder gleich gar nicht durchblicken wollten. So ein Verhalten war aus damaliger Sicht bei weitem nicht so unvernünftig wie es heute scheint. Und erst recht nicht hat es etwas mit einer etwaigen Überlegenheit sinnlicher Wahrnehmung zu tun.
Wer aus philosophischen Erwägungen heraus heute die Wahrnehmung über die mathematisch-technischen Erkenntnisse stellen will bewegt sich damit nicht nur hinter Galilei, sondern noch hinter Aristoteles in die vorwissenschaftliche Zeit zurück. Galilei oder so gut wie jeden neuzeitlichen Wissenschaftler kann man dafür jedenfalls nicht als Kronzeugen heranziehen, ja der Versuch ist eine krasse wissenschaftstheoretische Verfehlung. Wenn dafür die narzisstisch-egoistischen Motive so klar zutage liegen wie bei Kaletha ist es eine Frechheit, ich wiederhole mich da ausdrücklich.
Man fragt sich unwillkürlich was in so einem Fall die ganzen herbeizitierten philosophischen Geister nutzen sollen, die Kaletha beschwört ohne klar zu machen inwiefern sie seine Ansicht stützen. Es wirkt auf mich wie geistige Bulimie, wo sich einer die Texte diverser Autoritäten wie in einem Anfall in sich hineinstopft, und als unverdauten Brei alsbald wieder auskotzt. Und nicht merkt wie er dadurch immer dürrer wird.
Wenn das typisch für heutige Philosophie wäre, dann wäre sie wirklich mausetot. Hier schließt sich der Kreis zu Neil deGrasse Tyson, der sich in der Diskussion nach Ende des Gesprächs auch über Philosophie äußert. Es beginnt etwa bei 3 Minuten nach der vollen Stunde.
Für Diskussionen gibt's den inzwischen bekannten Thread im Hifi-Forum.