Gerade als in meinem Thread im Hifi-Forum über die Rolle der Presse im Lautheitskrieg diskutiert wird, rauscht ein anderes Thema durch den Blätterwald, an dem meiner Meinung nach die Mechanismen der Medienlandschaft noch besser aufgezeigt werden können.
Es brodelt die Gerüchteküche, daß das CERN in Kürze den Nachweis des schon lange gesuchten Higgs-Bosons verkünden könnte. Oder zumindest einen deutlichen Hinweis auf dessen Existenz. Für die Physik ist das eine außerordentlich wichtige Nachricht. Das für mein heutiges Thema Interessanteste dabei ist aber, daß sich in der allgemeinen Medienlandschaft inzwischen praktisch niemand mehr verkneifen kann, beim Higgs-Boson vom sogenannten "Gottesteilchen" zu reden. Egal ob Spiegel, Süddeutsche oder Bild, ob Deutschlandfunk oder Heise, keiner widersteht der Versuchung.
Was aber hat dieses Teilchen mit Gott zu tun?
Der Ursprung dieser Bezeichnung ist schnell erzählt: Der Physiker und Nobelpreisträger Leon Lederman veröffentlichte 1993 mit einem populärwissenschaftlichen Coautor zusammen ein Buch über das Higgs-Boson und seine Rolle im physikalischen Weltmodell. Angeblich wollte Lederman das Teilchen ursprünglich "that goddamn particle" nennen, aber da war sein Lektor dagegen. Stattdessen wurde es dann zum "god particle", was in der Retrospektive eine wirtschaftlich gesehen clevere Wahl war, denn wie man sieht hängt der Begriff bis heute in den Hirnen der Journalisten und ihrer Leser fest.
Das Teilchen hat also genau das mit Gott zu tun, daß Gott auf dem Umschlag eines populärwissenschaftlichen Sachbuches eine umsatzsteigernde Wirkung hat, besonders wenn der Autor ein Physiker mit Nobelpreis ist.
Mehr ist da nicht.
Der Begriff "Gottesteilchen" ist damit nichts Anderes als eine "Urban Legend", ein sich aus sich selbst heraus weiter verbreitendes Gerücht, ein "Mem", das die Hirne in unserer Medienwelt befällt und sie dazu bringt, es zu vervielfältigen. Die vom Begriff suggerierte Verbindung zwischen Physik und Metaphysik existiert dabei aber gar nicht, der Begriff ist leer, eine Mogelpackung ohne Inhalt. Es ist ein Trick des Marketings, um im umkämpften Sachbuchmarkt auf die vorderen Plätze zu kommen. Wer da in den entsprechenden Ranglisten nicht in die ersten 10 Plätze vorstößt, der taucht bei vielen Leuten gar nicht erst auf dem Radar auf. Einen Begriff zu erfinden, der etwas suggeriert das das Buch hinterher dann gar nicht einlöst, gehört da noch zu den harmloseren Finten.
Aber warum machen die ganzen Journalisten dabei mit? Sicher nicht um Lederman und seinem Verlag zu mehr Umsatz zu verhelfen! Worin besteht die Faszination und die Wirkung dieses Begriffs, der doch eigentlich gar nichts aussagt (und das was er suggeriert ist gelogen), und bloß als Verkaufshilfsmittel erfunden wurde?
Nun ist es sicher so, daß der Begriff "Higgs-Boson" in der Überschrift eines Zeitungsartikels weniger Leser anziehen wird, als das Wort "Gottes-Teilchen". Aber da gäbe es noch andere Möglichkeiten, die zum gleichen Ergebnis führen würden. Wie wär's zum Beispiel mit: "Teufels-Teilchen", "Todes-Teilchen", "Phantom-Teilchen", "Sex-Teilchen" oder "Märtyrer-Teilchen"? Wenn es nur darum geht Aufmerksamkeit zu erregen, ohne Rücksicht auf den damit transportierten Inhalt, dann ist es doch völlig egal, mit welchem reißerischen Hohlwort man das Teilchen verbindet! Dann hätte auch der Begriff "Gottverdammtes Teilchen" funktioniert, den der Lektor damals abgelehnt hatte.
Aber ich denke unter all diesen Alternativen ist es nicht zufällig der Begriff "Gottes-Teilchen" geworden. Es ist derjenige Begriff, der am ehesten "geht". Warum?
Es gibt unbestreitbar ein großes unterschwelliges Bedürfnis, die Naturwissenschaften, und speziell auch die Physik, mit dem Metaphysischen in Verbindung und in Einklang zu bringen. Gerade die Physik hat sich auf der einen Seite immer weiter von der Vorstellungswelt eines "normalen" Menschen entfernt, andererseits tritt sie im Gebiet der "Welterklärung" gegen die Religionen an, und kann für sich geradezu spektakuläre Erfolge verbuchen, die immer auch als Niederlage der Religion aufgefaßt werden können. Wenn der Nachweis des Higgs-Bosons nun gelungen sein sollte, dann wäre das ein weiterer spektakulärer Erfolg der Physik.
Das zu würdigen fällt einem als physikalisch nicht entsprechend vorgebildetem Mensch zusehends schwerer, angesichts des sich von der normalen Erfahrungswelt immer weiter entfernenden Themas. Vielleicht ist es daher nicht ganz überflüssig wenn ich das kurz einzuordnen versuche. Beim Higgs-Boson geht es nicht um Gott, und ich habe auch wenig Verständnis für die Metapher, das Teilchen würde das Universum zusammen halten. Das Teilchen hält eine wissenschaftliche Theorie, ein Erklärungsmodell zusammen. Es ist gewissermaßen der Schlußstein in diesem Modell und damit seine Bestätigung.
Vergleichen kann man das mit dem Periodensystem der Elemente, das im 19. Jahrhundert als Theorie aufgestellt wurde. Diese Theorie hat das Verständnis, wie Materie aufgebaut ist, entscheidend voran gebracht. Das hat viele Anwendugen, besonders auch in der Chemie, erst möglich gemacht, und hat auch das Verständnis vom Aufbau der Atome befördert. Aus der Theorie folgten aber auch Vorhersagen über die Existenz von Elementen, die bis dahin noch nicht bekannt waren, für die es aber im Periodensystem einen Platz gab.
So etwas ist für die wissenschaftliche Arbeit extrem wichtig, denn es bietet eine Möglichkeit, die Theorie zu testen. Wenn man aus der Theorie die Existenz von etwas bisher Unbekanntem folgern kann, dann kann man experimentell nach diesem Unbekannten suchen, denn aufgrund der Theorie kann man genauer sagen was für Eigenschaften das Gesuchte haben müßte. Wenn es daraufhin gefunden wird, dann ist das eine überzeugende Bestätigung für die Theorie. Wenn man es nicht findet, muß man eine plausible Erklärung finden warum man das Gesuchte nicht finden konnte, ansonsten sieht die Theorie alt aus.
Beim Periodensystem hat das ausgezeichnet geklappt. Schon Mendelejew, einer der beiden Entdecker des Periodensystems, postulierte auf dessen Basis die Existenz dreier bis dahin unbekannter Elemente, weil im Periodensystem an diesen Stellen Lücken auftraten. Alle drei Elemente (Gallium, Scandium und Germanium) wurden daraufhin gefunden.
Das Higgs-Boson ist das einzige Teilchen aus der als "Standardmodell der Elementarteilchenphysik" bekannten Theorie, für welches man bisher noch keinen Nachweis hatte. Higgs und ein paar andere Physiker haben schon vor Jahrzehnten vorausgesagt, daß es ein solches Teilchen geben müßte wenn das Standardmodell stimmt. Es ist die gleiche Situation wie damals bei den Lücken im Periodensystem: Wenn man das findet was in die Lücken reingehört, dann ist das eine schlagende Bestätigung für die Theorie.
Das Wichtige ist also nicht das Teilchen, sondern die Theorie. Ohne die Theorie hätte man gar keinen Grund nach dem Teilchen zu suchen, und keinen Anhaltspunkt wie und wonach man suchen müßte. Und man hätte auch keine Rechtfertigung für das viele Geld, das man dafür ausgeben muß. Die Wichtigkeit dieser Frage kann man daran erkennen, wieviel Geld man in den Bau des Apparates hineingesteckt hat, mit dem man so ein Teilchen suchen kann. Es wirkt zugegebenermaßen etwas paradox, daß man immer größere Anlagen bauen muß, um immer kleinere Teilchen aufzuspüren, aber das ist wohl der Gang der Physik.
Wenn also das Higgs-Boson nun zu einem erneuten Triumph der Physik werden sollte, dann ist das so weit von Gott entfernt wie es nur sein könnte. Gott hat weder etwas mit der Entstehung der zugrunde liegenden Theorie zu tun, aufgrund derer die Existenz des Teilchens vorhergesagt wurde, noch mit der Suche nach einem experimentellen Nachweis. Higgs selbst glaubt nicht an Gott, so wenig wie wahrscheinlich die Mehrheit seiner Fachkollegen. Das Teilchen erklärt einen Aspekt der physikalischen Realität, für den man nun keine religiöse Erklärung mehr braucht; es hat damit Gott um ein ganz klein wenig überflüssiger gemacht.
Eigentlich sollte sich damit die Notwendigkeit reduziert haben, auf Metaphysik zurückzugreifen, aber erstaunlicherweise führt es dazu, daß mal wieder die metaphysischen Assoziationen ins Kraut schießen, gerade so als wäre die nackte Wissenschaft unerträglich, und müßte in eine Art religiöser Watte gepackt werden.
Ich meine, den beteiligten Wissenschaftlern kann das nicht recht sein. Ich verstehe auch nicht wirklich, warum sich ein Lederman von seinem Verlag so manipulieren läßt. Seine Botschaft wird dadurch jedenfalls verfälscht, und er gibt sich als Kronzeuge für etwas her, das gar nicht Seines ist. Ich empfinde hier die Religion als ein Kuckucksei im naturwissenschaftlichen Gelege, das von den Wissenschaftlern mit ausgebrütet wird. Um ihres eigenen Marketingerfolges willen betreiben sie das Geschäft derer, die ganz andere Ziele haben: Gottesmarketing. Und wie es beim Kuckuck so ist, könnte es sein daß am Ende die eigenen Küken aus dem Nest geschmissen werden.
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