Manche Dinge dürfen einfach nicht in Frieden ruhen. In der audiophilen Szene dürfen insbesondere "Beweismittel" nicht sterben, die für die audiophilen Lieblings-Glaubenswahrheiten zu sprechen scheinen. Sie mögen einen schnellen Tod verdient haben, weil sie so fehlerhaft sind, aber man läßt sie nicht sterben, und selbst Jahrzehnte nachdem klar sein könnte daß da nichts dran ist, findet sich immer wieder einer der den Zombie aus der Kiste springen läßt und damit die Vernünftigen plagt.
Ein Beispiel für so etwas ist ein Artikel des englischen Audio-Professors Malcolm Omar Hawksford aus dem Jahr 1985, in dem er ausgehend von den Maxwell'schen Gleichungen und der altbekannten Elektrodynamik ein paar Spekulationen über Kabelklang ableitet. Hawksford lehrt an der Universität von Essex in Colchester, er gehört zum Audio Research Laboratory. Er ist ein durchaus respektierter Forscher, aktiv und geehrt in der AES, und daher sicher kein Leichtgewicht. Ich habe ein paar Vorträge von ihm gehört, das ist allerdings einige Jahre her.
Der erwähnte Artikel ist allerdings etwas "speziell". Er ist damals nicht etwa in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen, sondern einer englischen Hifi-Zeitschrift, nämlich "Hi-Fi News and Record Review", abgekürzt HFN/RR, die damals noch von John Atkinson geleitet wurde. Atkinson wurde nicht lange danach von der US-amerikanischen "Stereophile" abgeworben, ging nach USA, und ist seither der Stereophile-Editor. Damit dürfte auch zusammenhängen, daß in der Stereophile 1995 eine leicht überarbeitete Version des Hawksford'schen Artikels erschien.
Bevor ich mich um die elektrodynamische Substanz kümmere, was vielleicht nicht jedermanns Sache ist, lohnt es sich, wie ich finde, noch ein bißchen bei den Umständen zu verweilen. Wer die beiden Versionen miteinander vergleicht, sieht schnell daß die ältere Version deutlich mehr polemischen Gehalt hat, während die neuere darauf weitgehend verzichtet. Die neuere Version kann daher eher für eine wissenschaftliche Abhandlung gehalten werden, wobei man sich aber dann fragen wird wieso sie in einer Hifi-Zeitschrift erschienen ist und nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, zumal die Leserschaft in der großen Mehrheit mit der Mathematik darin heillos überfordert sein dürfte.
So weit ich weiß ist seither nichts derartiges in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen. Hawksford selbst hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel geschrieben und veröffentlicht, etliche davon über die AES, aber es ist meines Wissens nichts dabei was an diese Hifi-Artikel anknüpfen würde und damit den Aussagen in diesen Artikeln die wissenschaftliche Weihe verschaffen könnte. Für eine Zeitschrift wie das "Journal of the AES" gilt das Prinzip des "peer review", das bedeutet daß die eingereichten Artikel vor einer Veröffentlichung von anderen Wissenschaftlern begutachtet werden, um sicherzustellen daß das Material nicht fehlerhaft oder von schlechter Qualität ist. Hawksford gehört seit langem selbst zum "review board" dieser Zeitschrift und weiß daher über dieses Procedere sehr gut Bescheid. Er wäre in der besten Position gewesen, einen Artikel zu schreiben der diesen Anforderungen genügt. Es ist aber in den letzten 25 Jahren nichts dergleichen von ihm erschienen.
Nebenbei: Das "peer review"-Verfahren ist anonym, und zwar mit gutem Grund. Die Reviewer sollen nicht durch falsche Loyalitäten in ihrem Urteil beeinflußt werden, und der Artikelschreiber soll keinen Anlaß kriegen um deswegen Feindseligkeiten zu den Reviewern aufzubauen. Erst die Anonymität gewährleistet neutrale und ehrliche Urteile, und hilft daher am ehesten der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Selbst wenn Hawksfords Material zu spekulativ sein sollte für einen solchen "peer review"-Artikel, dann hätte man es immer noch auf einer Konferenz als Papier vorstellen können und sich den Kommentaren der Kollegen stellen können. Solche Papiere sind keinem "peer review" unterworfen und werden allenfalls abgelehnt wenn es sich um offensichtlichen Unsinn handelt oder unpassend für die Veranstaltung ist. Auch das ist in diesem Fall aber nicht passiert. Hawksford scheint außer den zwei Hifi-Artikeln nichts weiter in dieser Sache unternommen zu haben. Dabei wäre das vom Inhalt her wahrscheinlich seine aufsehenerregendste Arbeit geworden, und hätte ihm Ruhm weit über die Audioszene hinaus eingebracht. Jedenfalls wenn etwas dran gewesen wäre.
Offensichtlich traut Hawksford selbst seinen Erkenntnissen nicht weit genug als daß er es der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit zumuten wollte.
Und recht hätte er damit, denn diese Fachöffentlichkeit hätte ihn zerlegt. Ich weiß wie es auf einer AES-Convention zugeht, ich kenne etliche der Leute, die sich in so einen Vortrag setzen würden, und ich bin mir sicher daß darunter einige Leute wären die von Maxwell und der Elektrodynamik mindestens ebenso viel verstehen wie Hawksford, und die ihm seine Böcke einzeln unter die Nase gerieben hätten. Das ist auch der entscheidende Unterschied zwischen dem Publikum einer Hifi-Zeitschrift und dem Publikum bei einer wissenschaftlichen Konferenz. Bei der Hifi-Zeitschrift braucht man nicht zu fürchten daß man auf diese Weise zerlegt wird. Selbst wenn einige wenige der Leser dort ebenfalls genug wissen um den Artikel kritisieren zu können, so müssen sie immer noch an der Redaktion vorbei kommen um ihren Einwänden auch Gehör zu verschaffen. Wie schwer das sein kann dürfte im Fall der Stereoplay-Verstärkertest-Diskussion ziemlich offensichtlich geworden sein.
Was ist so faul an diesem Artikel? Man kann es besser sehen wenn man das Pferd von hinten aufzäumt, wenn man nämlich den Artikel von seinen Schlußfolgerungen her betrachtet. Vorher braucht's aber noch einen kurzen Überblick über die relevanten Aspekte der Elektrodynamik, damit man versteht worum's hier inhaltlich geht.
Die meisten Leute sehen den elektrischen Strom als den Fluß von Elektronen in einem Leiter an. Das ist die Betrachtung auf der Ebene von Teilchen, die eine elektrische Ladung tragen. Maxwell wußte aber von diesen Teilchen noch nichts. Die Elektrodynamik, wie sie sich aus den Maxwell'schen Gleichungen herleiten läßt, dreht sich um Felder und um Wellen. Beide Betrachtungsarten haben ihre Gültigkeit und beschreiben letztlich dieselbe Realität, aber es ist auch immer noch schwierig, diese scheinbar paradoxe Dualität zwischen Teilchen und Wellen im Kopf zusammenzubekommen.
Bei der Elektrodynamik geht's zum Beispiel darum wie die Energie, bzw. das Signal von einem Sender zum Empfänger kommt. Welche Rolle dabei die Drähte und die Isolatoren der Leitung spielen, die Sender und Empfänger miteinander verbindet. Weil es hier um Felder und Wellen geht, und nicht um Teilchen, stellt sich heraus daß sich diese Felder entlang der Leiter vom Sender zum Empfänger fortpflanzen, und zwar genauer gesagt im Zwischenraum zwischen zwei Leitern. Man sagt zwar salopp daß es die Leiter sind in denen der Strom fließt, aber das Signal läuft als Welle im sog. Dielektrikum, also im Isolator zwischen den Leitern. Die metallischen Drähte sind eher wie Schienen, an denen entlang die Wellen laufen.
Interessant wird so eine Betrachtungsweise vor allem dann, wenn die Distanz der Übertragung so groß wird daß sich die Welleneffekte auch bemerkbar machen, das heißt wenn die Wellenlänge kurz genug ist daß sie über die Distanz der Übertragung auch auffällt. Bei Hochfrequenz ist das üblicherweise der Fall, von daher sind solche Betrachtungen bei Rundfunk, Radar, Satellitenkommunikation und Datennetzen seit langer Zeit völlig normal und Teil des Instrumentariums der Ingenieure. Bei Audio ist das nicht so, denn die Leitungen müßten ganz schön lang werden bevor sich bei Audiofrequenzen Welleneffekte auf der Leitung zeigen. Eine definitive Grenze gibt's aber nicht, und man kann daher die elektrodynamischen Prinzipien auch auf die Situation bei NF-Kabeln anwenden, und es muß immer noch stimmen. Genau das versucht Hawksford.
Ein Supraleiter, der den elektrischen Strom ohne jeden Verlust leitet, ist in seinem Inneren völlig frei von Feldern. Es sieht so aus als würde der ganze Strom an seiner Oberfläche fließen. Ein realer Leiter mit Widerstand, wie er bei Zimmertemperatur vorliegt, bewirkt Verluste, wenn er Strom leitet. In der Elektrodynamik wird das dadurch erklärt, daß ein Teil der Felder in den Leiter eindringt und die damit verbundene Energie verloren geht, und in Wärme umgewandelt wird. Das in den Leiter dringende Feld ist das "loss field" von dem auch Hawksford redet.
Das Verlustfeld dringt senkrecht in den Leiter ein, während sich das Signal dazu senkrecht entlang des Leiters fortpflanzt. Für die Geschwindigkeit des Signals sind die Eigenschaften des Dielektrikums maßgebend, und übliche Dielektrika bremsen das Signal gegenüber der Lichtgeschwindigkeit um einige Prozent. Das Feld im Leiter kommt demgegenüber nur sehr langsam voran, was den Skineffekt zur Folge hat, der besagt daß je höher die Frequenz wird, desto dünner wird die Schicht des Leiters an seiner Oberfläche, die noch merklich zur Stromleitung beiträgt.
Aber jetzt zu Hawksford's Artikel. Wie angekündigt fange ich mit den "Conclusions" an. Die ersten Punkte geben im Grunde das wieder was ich schon dargestellt habe, und was die Elektrodynamik schon seit langer Zeit so vertritt. Wenn er im dritten Punkt erklärt daß wegen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei unterschiedlichen Frequenzen das Material sehr dispersiv wäre, dann muß man dabei im Hinterkopf behalten daß es um das "loss field" geht, das zur Signalübertragung ohnehin nichts beiträgt, weil es in Wärme umgewandelt wird.
Im vierten Punkt beginnen die eigentlich interessanten Aussagen, aber es beginnen auch die Spekulationen. Konkret spekuliert er über die "discontinuities", von denen er nirgends gezeigt hat daß es sie überhaupt gibt. Für den Fall daß es sie gibt schließt er daran die weitere Spekulation, das das auf den Feldverlauf im Leiter chaotische Effekte haben könnte.
Im den nächsten Punkten geht's so weiter, er spekuliert über "partielle Halbleiterdioden-Grenzschichten", deren Existenz ebenso reine Spekulation ist, wie auch der Einfluß der Kristallkörner. Nirgendwo in seinem Artikel hat er derartiges nachgewiesen, weder theoretisch noch experimentell.
Statt den Rest vollends abzuhandeln frage ich Euch selbst, guckt's Euch an und fragt Euch was er denn nun eigentlich definitiv herausgefunden hat. Was denn eigentlich nicht abhängt von Vermutungen.
So wie ich es sehe sind seine Ergebnisse entweder Dinge die man in der Elektrodynamik seit Jahrzehnten weiß, oder es sind Dinge die nur dann einen Effekt haben können wenn ein paar Spekulationen zutreffen, die er nirgends in seiner Arbeit nachweist. Genau genommen macht er also keinen Fehler, aber er sagt auch nichts Neues. Er sagt das aber auf eine solche Art und Weise daß man, besonders als Laie, in die Richtung gedrängt wird, etwas Signifikantes dahinter zu vermuten. Es ist eine Art Suggestivtaktik mit mathematischen Mitteln. Und was er da suggeriert hätte anderen Wissenschaftlern schon vor langer Zeit auffallen müssen, wenn es eine signifikante Größe gehabt hätte.
Dazu wird nirgends klar warum die unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten des "loss field" auf das Signal überhaupt einen Einfluß haben sollten. Die Energie im loss field geht verloren. Damit ist der Einfluß auf das übertragene Signal ebenfalls weg.
Der Rest des Artikels enthält zwar weitgehend korrekte Mathe, aber der Mix aus Fakt und Spekulation ist durchweg ziemlich problematisch. Dazu kommen ein paar Sachen die nur dem aufmerksamen Leser auffallen, aber einen schalen Geschmack zurücklassen. So z.B. die kurz erwähnte, aber nicht weiter erklärte Verwendung von Stahldrähten in seinem Meßversuch, wo er sonst von Kupfer redet. Er tut auch wenig dafür um jemandem das Nachvollziehen seiner Versuche zu ermöglichen, und das was er an Meßergebnissen anbietet ist kein eindeutiger Beweis für seine Thesen.
Nach dem Erscheinen der zweiten Version des Artikels gab's ein "Rebuttal" im Audio Critic, eine Hifi-Postille die ebensowenig wissenschaftlich ist wie die Stereophile, bloß von "der anderen Seite" (im Artikel "Hip Boots"). Da drin findet man weitere Argumente, und ich selbst habe schon vor ein paar Jahren in einer Debatte im Hifi-Forum was dazu geschrieben, auch wenn das recht mühsam zu lesen ist zwischen den Feindseligkeiten. Das Thema springt seit Langem in den Foren immer wieder aus der Kiste, weswegen man eigentlich bloß nach Hawksford und Maxwell und Essex zu suchen braucht, wenn man weitere Diskussionen zu finden wünscht.
Der Sex-Appeal für Audiophile liegt auf der Hand: Ein anerkannter Wissenschaftler, der einen Artikel veröffentlicht hat den man aus audiophiler Sicht als wissenschaftlich durchgehen lassen kann, weil er voller Mathe ist, und der so aussieht als bestätigte er die audiophilen Überzeugungen, der in der ersten Fassung sogar die dazu passende Polemik benutzt. So etwas darf man nicht sterben lassen. Den läßt man immer wieder als Springteufel vor den Skeptikern aus der Kiste hüpfen. Wen kümmert's da schon wie viel da wirklich dran ist?