Daß Bullshit im HiFi-Sektor endemisch ist, ist für Leser meines Blogs nichts Neues. Beschäftigen wir uns also mal mit dem "Ding an sich".
Das "Standardwerk" über Bullshit ist das kleine Büchlein von Harry G. Frankfurt, einem Philosophen in den USA, der den Text als Aufsatz 1986 verfaßte. Es mußten aber beinahe 20 Jahre vergehen, bis er als Buch mit dem Titel "On Bullshit" erschien, und gleich zum Bestseller wurde. Es geht darin eigentlich bloß darum, was Bullshit ist, eine vollständige Abhandlung hat Frankfurt nicht darin gesehen.
Der Frage, was Bullshit eigentlich ist, nähert sich Frankfurt dadurch, daß er den Begriff gegen einige andere Begriffe abgrenzt, die im gleichen Zusammenhang stehen. Besonders relevant scheint mir der Vergleich mit der Lüge. Worin unterscheidet sich Bullshit von Lüge?
Moralisch scheint es einen zu geben, denn er erwähnt den Wahlspruch aus einem Roman: "Never tell a lie when you can bullshit your way through!". Lügen ist also schlimmer als bullshitten. Bullshitten ist wie mogeln, nicht ok aber tolerabel, menschlich, verständlich. Frankfurt schreibt: "Tatsächlich neigen die Menschen gegenüber dem Bullshit zu größerer Toleranz als gegenüber der Lüge, vielleicht weil wir Bullshit nicht so stark als persönlichen Affront erleben. Wir mögen uns vom Bullshit distanzieren, aber wir wenden uns eher mit einem ungeduldigen oder irritierten Schulterzucken davon ab als mit jenem Gefühl der Verletzung oder der Empörung, die Lügen in uns auslösen. Die Frage, weshalb wir dem Bullshit mit größerer Milde begegnen als der Lüge, ist eine wichtige, deren Beantwortung ich dem Leser als kleine Hausaufgabe auf den Weg geben möchte."
Wer lügt, der kennt die Wahrheit, behauptet aber das Gegenteil. Was macht der Bullshitter? Er kümmert sich nicht um die Wahrheit. Der Bullshitter tut nur so als ginge es ihm um die Wahrheit, in Wirklichkeit hat er ganz andere Pläne. Er verneint die Wahrheit nicht, er schätzt sie gering. Für Frankfurt hängt es an der Intention desjenigen, der spricht, ob etwas eine Lüge ist, oder Bullshit. Und er hält durchaus nicht Bullshit für harmloser als die Lüge, eher im Gegenteil. "Wer eine Lüge erfinden will, muß glauben, die Wahrheit zu kennen. Und wer eine erfolgreiche Lüge erfinden will, muß seine wahrheitswidrige Behauptung im Hinblick auf diese Wahrheit konstruieren." Der Bullshitter ist dagegen wesentlich freier. Bullshit muß nicht gelogen sein, einfach frei erfunden. Verschleiert werden soll nicht die Wahrheit, sondern die Absicht des Bullshitters. "Das einzige unverzichtbare und unverwechselbare Merkmal des Bullshitters ist, daß er in einer bestimmten Weise falsch darstellt, worauf er aus ist."
Die Lüge beinhaltet damit einen Respekt für die Wahrheit, den Bullshit nicht hat. "Niemand kann lügen, sofern er nicht glaubt, die Wahrheit zu kennen. Zur Produktion von Bullshit ist solch eine Überzeugung nicht erforderlich." Dieser mangelnde Respekt für die Wahrheit ist, was für Frankfurt den Bullshit gefährlicher macht als die Lüge.
Warum haben wir es mit so viel Bullshit zu tun? Ist es heute schlimmer als früher?
Frankfurt glaubt, daß die Bullshit-Schwemme heutzutage mindestens zum Teil auch etwas mit einem postmodernen Zeitgeist zu tun hat, der den Begriff einer objektiven Realität und damit auch der Richtigkeit in Frage stellt, und die individuelle Wahrnehmung in den Vordergrund stellt. "Es ist, als meinte [der Einzelne], da das Bemühen um Tatsachentreue sich als sinnlos erwiesen habe, müsse er nun versuchen, sich selbst treu zu sein." Er versuche so, Richtigkeit durch Aufrichtigkeit zu ersetzen, aber es "stützt nichts in der Theorie und erst recht nichts in der Erfahrung die abstruse These, ein Mensch vermöge am ehesten noch die Wahrheit über sich selbst zu erkennen. ... angesichts dieser Tatsache ist Aufrichtigkeit selbst Bullshit."
Kommt Euch das bekannt vor? Da sind wir direkt in der Mitte audiophiler "Philosophie" gelandet, nicht wahr? Der Vorrang individueller Wahrnehmung, die Geringschätzung objektiver Wahrheit und Richtigkeit, das begünstigt Bullshit.
Ich habe noch eine weitere Erklärung für die Bullshit-Schwemme. Oder eigentlich zwei. Einerseits sind wir zu tolerant, was Bullshit angeht. Würden wir Bullshit für ebenso inakzeptabel halten wie die Lüge, und das den Bullshitter auch spüren lassen, dann hätte er es erheblich schwerer. Das ist vielleicht in unserer unmittelbaren Umgebung noch wichtiger als bei den Bullshittern "da oben", in Medien und Politik. Aber auch da wäre heilsam, wenn Bullshitten so konsequent verfolgt würde wie Plagiieren bei der Doktorarbeit.
Meine zweite Erklärung ist, daß Bullshit umso besser funktioniert, je mehr es davon gibt. Bullshit ist wie Lärm, irgendwann geht der Nutzton unter in einer Art Kakophonie, und es bleibt einem nichts Anderes übrig, als sich auf Instinkt und momentanen Eindruck zu verlassen. Und Bullshit ist darauf spezialisiert, momentane Eindrücke zu erzeugen. Auf deren Haltbarkeit kommt es ja nicht an. Die Situation wird einer Börse mit High-Speed-Trading ähnlicher, wo es auf den Moment ankommt, und gar keine Gelegenheit existiert, vor einer Entscheidung zu recherchieren und nach der Wahrheit zu suchen.
Daraus ergibt sich auch ein ideales Profil eines Bullshitters: Er ist am kurzfristigen Effekt oder Eindruck interessiert, die Wahrheit ist ihm völlig egal. Information hat keinen Wahrheitsgehalt, sondern bloß einen Kurs, und der läßt sich manipulieren. Der Zweck der Kommunikation ist Manipulation, das Ziel ist der eigene Vorteil. Wenn man schon nicht überzeugen kann, dann kann man wenigstens verwirren, das ist fast genauso gut. Vielleicht besser, weil der Verwirrte ist auf seine Instinkte zurückgeworfen, und die kann man besser unterschwellig beeinflussen. Wie das geht, damit beschäftigt sich das Marketing und die Verkaufspsychologie, das interessiert die Medien und die Politik.
Es hilft, wenn man durch keinerlei Verantwortungsbewußtsein behindert ist. Beispiel Klimapolitik. Niemand, der sich mit dem Thema inhaltlich auseinander setzt, hat irgendwelche Zweifel am menschlich-industriellen Einfluß auf die Klimaentwicklung der letzten 150 Jahre. Die Frage ist zwar wie so oft: Was ist ein Beweis? Aber die Frage nach der Plausibilität ist klar zu beantworten, die ganzen Indikatoren zeigen in eine eindeutige Richtung. Aber das betrifft die Frage nach der Wahrheit. Wenn einem die egal ist, und es auf das persönliche oder korporative Interesse ankommt, dann kann man durch die passende Bullshit-Kampagne mindestens mal genug Verwirrung stiften, um die Allgemeinheit auf ihre Instinkte zurückzuwerfen. Das kann man z.B. in den USA schön nachverfolgen. Für eine Kampagne braucht man keine seriöse Wissenschaft, man braucht bloß Geld und eine konsequente Infragestellung der eigentlich unbestreitbaren Ergebnisse, und man kann die öffentliche Meinung drehen.
Das ist im Hifi-Bereich auch nicht anders. Auch da funktioniert Bullshit am besten "viel und laut". Der beste Trick führt über das Einspannen von Freiwilligen. Von Trotteln, die sich gern zum Werkzeug und Multiplikator in einer Bullshit-Kampagne machen lassen. Das ist für mich ohnehin der Lackmustest für gelungene Bullshit-Strategien: Wieviel Kanonenfutter kann man rekrutieren, das sich freiwillig dafür hergibt, sich in öffentlichen Debatten unmöglich zu machen.
Wenn Ihr gescheite Kommentare habt: Bitteschön. Bullshit unwelcome! ;-)