Bei so manchem Subjektivisten habe ich das Gefühl, daß er mit Wahrheit als Konzept so seine privaten Schwierigkeiten hat. Er tut so als sei für ihn das wahr was er wahrnimmt. Die Sinne sind der heiße Draht von der Welt da draußen zum Bewußtsein da drinnen, und beim Audiophilen ist dieser heiße Draht eben besonders high-fidel, besonders dick und besonders verlustarm.
Der Rationalist dagegen hält die Sinne bzw. die Wahrnehmung eher für ein Hindernis bei der Erkenntnis der Wahrheit. Zu viele Täuschungen, Irrtümer, Einbildungen und Wunschvorstellungen als daß man sich auf das Wahrgenommene verlassen könnte. Wer die Wahrheit erfahren will muß indirekt vorgehen, um die Fehler der Wahrnehmung zu umgehen. Das verlangt kritischen und kreativen Einsatz der grauen Masse, in der die Wahrnehmungen auflaufen.
Der Subjektivist: Die Welt ist so wie sie mir scheint.
Der Rationalist: Die Welt ist nicht so wie sie scheint.
Der Subjektivist spottet: Im Gegensatz zu Dir kann ich mich noch auf meine Sinne verlassen!
Der Rationalist spottet: Wenn Du den Kopf in den Sand steckst verschwindet für Dich die Welt!
Lustig zu sehen wie alt diese Auseinandersetzung ist, und wie wenig wir hier weiter gekommen zu sein scheinen. Solche Dinge waren nämlich schon Streitthema als es noch gar keine Audiophilen gab. Im antiken Griechenland z.B. gab es auch schon Subjektivisten und ihre Kritiker. Protagoras hat die Existenz einer allgemeingültigen Wahrheit abgestritten und meinte es gebe nur eine individuelle, subjektive Wahrheit. Heutzutage wäre er bestimmt Audiophiler. Sokrates hatte keine besonders vorteilhafte Meinung davon. Sein Schüler Platon hat im Theaitetos eine Diskussion niedergeschrieben (ob originalgetreu sei dahingestellt), in der sich Sokrates über Protagoras so äußert:
"Das übrige hat mir alles sehr wohl gefallen, was er sagt, daß, was jedem scheint, für ihn auch ist; nur über den Anfang seiner Rede wundere ich mich, daß er nicht gleich seine »Wahrheit« so beginnt, das Maß aller Dinge sei das Schwein oder der Affe, oder was man noch unter allem, was Wahrnehmung hat, Unvernünftigeres nennen könnte, damit er recht hochsinnig und herabwürdigend begönne zu uns zu reden, indem er zeigte, daß wir zwar ihn bewunderten als einen Gott seiner Weisheit wegen, er aber doch nichts besser wäre an Einsicht als ein halberwachsener Frosch, geschweige denn als irgend ein anderer unter den Menschen. [...] Denn wenn einem jeden wahr sein soll, was er mittelst der Wahrnehmung vorstellt, und weder einer den Zustand des andern besser beurteilen kann, noch auch die Vorstellung des einen der andere besser imstande ist in Erwägung zu ziehen, ob sie wahr oder falsch ist, sondern, wie schon oft gesagt ist, jeder nur seine eignen Vorstellungen hat und diese alle richtig und wahr sind: wie soll denn wohl, o Freund, nur Protagoras weise sein, so daß er mit Recht auch von andern zum Lehrer angenommen wird, und das um großen Lohn, wir dagegen unwissender, so daß wir bei ihm in die Schule gehn müssen, da doch jeder Mensch das Maß seiner eignen Weisheit ist? Und wie sollen wir nicht glauben, daß Protagoras dies bloß im Scherz vorbringt? [...] Denn gegenseitig einer des andern Vorstellungen und Meinungen in Betrachtung ziehen und zu widerlegen suchen, wenn sie doch alle richtig sind, – ist das nicht eine langweilige und überlaute Kinderei, wenn anders die »Wahrheit« des Protagoras wirklich wahr ist und nicht nur scherzend aus dem verborgenen Heiligtum des Buches herausgeredet hat?"Es liest sich etwas geschraubt, aber man kann's in einfacherer Sprache zuspitzen: Wenn jeder seine eigene Wahrheit hat, wie kann dann Protagoras meinen er wisse es besser?
Oder so: Wer sagt jeder habe seine eigene Wahrheit, der vergackeiert entweder sich selbst, oder die anderen.
Ich mache keinen Hehl daraus daß ich hier auf Sokrates' Seite stehe. Ich finde er läßt den Subjektivismus ziemlich alt aussehen. 2500 Jahre alt. Da sage noch einer ich würde krass formulieren! Von den Audiophilen wäre sogar mir nicht eingefallen zu sagen, sie hätten die Einsicht von halberwachsenen Fröschen.
Was das vergackeiern angeht bin ich aber gänzlich einverstanden. Ich halte den Subjektivismus für eine Vergackeierungsmethode. Und man kann auch schön sehen daß die Einen sich selbst vergackeiern, die anderen sind eher darauf aus jemand Anderen des Geldes wegen zu vergackeiern.
Wahrheit und Wirklichkeit sind Konzepte, die überhaupt erst einen Sinn haben wenn sie nicht individuell und subjektiv sind. Wenn es eine unabhängige Wirklichkeit gibt, und wenn die Wahrnehmung davon bei unterschiedlichen Menschen verschieden ist, dann kann die Wahrnehmung allein nicht reichen, um die Wirklichkeit zu erkennen. Es braucht mehr. Was könnte das sein?
Jetzt sind wir bei der Wissenschaft. Und damit beim Wissen. Wenn Wahrnehmung allein reichen würde bräuchten wir weder Wissen noch Wissenschaft. Wir bräuchten bloß Augen und Ohren aufsperren, und die Wirklichkeit reinlassen. Das kann aber auch der halberwachsene Frosch. Wir haben ihm etwas voraus: Wir können denken. Ok, vorsichtiger formuliert: Ich vermute die meisten von uns können denken. Meistens.
Ich sage jetzt mal ganz provokativ: Der Sinn des Denkens besteht darin, seine Wahrnehmung in Frage zu stellen. Damit man hinter die Fassade der Dinge blicken kann, ihre wahre Natur erkennen kann. Vielleicht im ganz antiken Sinn auch sich selbst erkennen kann. Die Wissenschaft hat sich ein Programm und eine Methode gegeben wie man diese Wahrheit finden kann, nämlich durch eine Kombination aus Theoriebildung, Ableitung von Vorhersagen, und Überprüfen der Vorhersagen durch experimentelle, vom Experimentator unabhängige Verifikation. Dieses Programm ist geradezu spektakulär erfolgreich gewesen, wie wohl kaum jemand leugnen kann. Es kann also wohl kaum grundlegend falsch gewesen sein.
Der Rückgriff auf die eigene subjektive Wahrnehmung hätte dagegen noch nicht einmal zur Erkenntnis führen können daß die Erde um die Sonne kreist. Jeder weiß daß es so aussieht als kreiste die Sonne um die Erde, aber daß es in Wahrheit anders rum ist. Durch Wahrnehmung allein hätten wir das nie und nimmer rausgefunden. Dazu waren eine Menge tiefsinniger Überlegungen nötig, und das Vertrauen darin, daß diese Überlegungen letztlich ein besseres Bild von der Wahrheit vermitteln können als die unmittelbare Wahrnehmung.
Heute glaubt kein halbwegs aufgeklärter Mensch mehr daran daß die Sonne um die Erde kreist. Aber warum glaubt das keiner mehr? Es sieht doch immer noch so aus! Wenn die eigene Wahrnehmung bei Audio immer noch das Wichtigste ist, warum ist das bei der Sonne nicht genauso?
Auch der Audiophile akzeptiert also wissenschaftlich erworbenes Wissen, wenn es um die Sonne geht. Bei Audio aber läßt er bloß sein eigenes Gehör gelten. Wenn der wissenschaftliche Erkenntnisstand seiner Hörerfahrung widerspricht, dann hofft er auf in der Zukunft noch zu findende wissenschaftliche Ergebnisse. Das ist ungefähr so geistreich wie der Glaube, zukünftige wissenschaftliche Erkenntnisse würden irgendwann die Sonne wieder um die Erde kreisen lassen, wie es der Wahrnehmung entspricht.
Die Erkenntnis, daß die Wirklichkeit sich von unserer Wahrnehmung derselben unterscheidet, und daß es so etwas wie eine äußere Wirklichkeit gibt, die auch da bleibt wenn wir weg sind oder wegschauen, gehört zu den grundlegenden Kulturleistungen der Menschheit. Das scheinen bloß noch nicht alle in ihrer ganzen Tragweite begriffen zu haben.
"Die Wirklichkeit ist das, was nicht verschwindet wenn Du nicht mehr daran glaubst."Bei Audio verschwindet so Einiges wenn man aufhört daran zu glauben, und daraufhin Untersuchungsmethoden anwendet, die die eigene Person ausklammern. Wenn man also anfängt, das Thema mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Wenn man seinen Stolz runterschluckt, und anfängt aus dem zu lernen, was diejenigen in den letzten 2500 Jahren über die Wirklichkeit herausgefunden haben, deren Einsicht über die halberwachsener Frösche hinausgeht.