Ich traue normalerweise meinen Ohren, aber ich würde niemandem trauen, der mir empfiehlt, ich solle nur meinen Ohren trauen.
"Den eigenen Ohren trauen", das ist quasi zum Schlachtruf der Audiophilen geworden. Wie oft haben wir das nicht schon lesen oder hören müssen, wenn wir mit Audiophilen debattieren! Der Audiophile, der wahre Musikliebhaber, traut selbstverständlich seinen Ohren, während der Techniker die Wahrheit auf dem Oszilloskopschirm sucht. Der Audiophile kann auch seinen Ohren trauen, denn er ist ja geübt und weiß aus Livekonzerten, wie sich die Musik anhören muß, während der Techniker sich an Zahlen und Diagrammen festhält, die die Musik und die Empfindung natürlich nicht repräsentieren können.
Schönes Märchen, leider gelogen.
Wie wenig ein Audiophiler seinen Ohren traut, das merkt man spätestens beim Thema Blindtest. Müßte jemand, der sich nur auf seine Ohren verläßt, nicht begeistert über eine Testmethode sein, die versucht, alle anderen Einflüsse auszuschließen, die mit den Ohren bzw. dem Gehör nichts zu tun haben? So etwas müßte für jemanden, der sich seines Gehörs sicher ist, doch geradezu ideal sein!
Das Gegenteil ist der Fall: Von audiophiler Seite werden Blindtests bekämpft als wären sie eine Erfindung des Teufels. Gehörfremde Einflüsse auszuschließen wird als unnatürlich empfunden, und man unterstellt negative Einflüsse auf das Hörvermögen.
Nun ist es sicherlich unnatürlich, wenn man den Einfluß anderer Sinnesreize ausschließt, weil der Mensch nun einmal im natürlichen Zustand mit allen verfügbaren Sinnesorganen zugleich kommuniziert. Aber das bedeutet, daß sich dieser Mensch eben nicht auf einen Sinn verläßt, sondern auf eine Kombination aller Sinne. Die menschliche Wahrnehmung ist sogar sehr geübt darin, die Sinne miteinander zu kombinieren, und Defizite bei einem Sinn mit Hilfe anderer Sinne auszugleichen. Das passiert ganz unwillkürlich und unbewußt. Logisch, daß man das Gefühl hat es fehle etwas, wenn man das durch eine bestimmte Versuchsgestaltung unterbindet.
Ein Beispiel dafür ist die Richtungswahrnehmung, die unter anderem auch davon profitiert, daß sich die Wahrnehmung ändert wenn sich die Kopfposition ändert. Den Kopf völlig ruhig und ortsfest zu halten wäre unnatürlich und unbequem. Man bewegt den Kopf eigentlich immer unwillkürlich, mindestens ein bißchen. Da sich das Schallfeld um einen herum nicht mitbewegt, ändert sich die Wahrnehmung, und das geht in die vom Gehirn verarbeitete Information mit ein. Das ist eigentlich eine Kombination des Gehörs mit der Motorik und dem Gleichgewichtsorgan. Hat man dagegen einen Kopfhörer auf, oder Ohrhörer drin, dann ist der Schall unabhängig von Kopfbewegungen, und die ganze Szene scheint sich mit dem Kopf zu drehen. Das ist einer der Gründe, warum das Hören mit Kopfhörer unnatürlich wirken kann. Um das zu kompensieren, hat man versucht, mit Head-Trackern die Kopfbewegung festzustellen, und das Schallfeld entsprechend zu modifizieren, was ein ganz ordentlicher Aufwand ist, und nicht unbedingt völlig überzeugende Ergebnisse liefert.
Mit anderen Worten, der Mensch traut nicht nur seinen eigenen Ohren, wenn es um die Richtungswahrnehmung geht. Da spielen noch ganz andere Faktoren hinein, und erst dadurch wird die menschliche Wahrnehmung so gut wie sie ist. Das obige Beispiel ist beileibe nicht das einzige. Wer glaubt, das sei alles eine Leistung des Gehörs, macht sich was vor. Das ist einer der grundlegenden Fehler der Audiophilen: Es werden Leistungen mit dem Gehör in Verbindung gebracht, die ihren Grund ganz woanders haben.
Im Blindtest versucht man ganz bewußt, diese anderen Einflüsse auszuschalten, um den Beitrag des Gehörs zu isolieren und eigenständig bewerten zu können. Es ist keine Frage, daß das sinnvoll, ja geradezu unverzichtbar, ist, wenn man sich für das Gehör selbst interessiert. Es ist gerade diese menschliche Eigenschaft, nach Möglichkeit alle Informationsquellen miteinander zu kombinieren, was man auch nicht bewußt unterlassen kann, die einem den Blindtest quasi aufzwingt. Anders könnte man keine zuverlässigen Aussagen über das Gehör als solches gewinnen, sondern höchstens über die Wahrnehmung im Ganzen, in der Kombination aller Sinne.
Genau das macht es aber unnatürlich, und selbstverständlich wird dadurch die Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt. Die Wahrnehmungsfähigkeit wohlgemerkt, nicht die Hörfähigkeit. Das ist kein bedauerlicher Nachteil, sondern Sinn und Zweck des Blindtests. Wer dem Irrglauben anhängt, alles was er meint zu hören habe er tatsächlich nur durch sein Gehör aufgenommen, der wird sich wundern wieviel davon unter Blindtestbedingungen verschwindet. Das ist kein Problem, sondern eine Folge der Art und Weise wie menschliche Wahrnehmung funktioniert, und ein Indiz daß der Blindtest funktioniert, weil er gehörfremde Einflüsse einschränkt.
Wer also meint er könne seinen Ohren trauen, und das womöglich sogar als Mantra vor sich her trägt, und dabei zugleich Blindtests ablehnt, der müßte eigentlich bei nüchternem Nachdenken finden, daß das ein Widerspruch ist. So groß kann das Vertrauen ins eigene Gehör dann wohl kaum sein. Was in Wahrheit ein Fehler in der eigenen Vorstellung ist, wird auf den Blindtest projiziert, und als dessen Fehler gesehen.
Nun sind Blindtests sicher nicht perfekt, aber doch wesentlich besser als ihr Ruf in der audiophilen Szene. Wenn jemand behauptet, sie würden aus diesem oder jenem Grund nicht funktionieren, dann meint er meist, daß sie nicht das Ergebnis liefern, was er erwartet hätte. Wer dem oben erwähnten Irrglauben anhängt, der wird aber unrealistische Erwartungen haben. Das Problem liegt dann bei ihm und nicht beim Blindtest.
Die audiophile Haltung wird manchmal untermauert mit einem Argument aus der Evolution. Man behauptet, das Gehör des Menschen sei so gut und empfindlich geworden, weil das ein überlebenswichtiger Faktor war zu einer Zeit, als der Mensch noch in Gefahr stand, von wilden Tieren attackiert und womöglich gefressen zu werden. Dieses im Kern wohl richtige Argument kommt etwas krude daher und führt zu noch viel kruderen Schlussfolgerungen. Wenn es so eindimensional gewesen wäre wie es in der Argumentation oft erscheint, dann wäre kaum zu erklären, wieso im Tierreich gelegentlich wesentlich bessere Hörleistungen zu beobachten sind als beim Menschen. Der Mensch ist hier keineswegs die "Krone der Schöpfung"*. Es müssen also andere Faktoren eine bedeutende Rolle gespielt haben, die man nicht unter den Tisch fallen lassen kann.
Viel näher an der Wahrheit ist man wohl, wenn man sich klar macht daß nicht das Gehör im Speziellen, sondern der gesamte Wahrnehmungsapparat des Menschen im Ganzen, mit allen Sinnen und deren Verarbeitung im Gehirn, Gegenstand der evolutionsgetriebenen Optimierung war, oder noch eher der gesamte Mensch in der Kombination aller seiner Fähigkeiten. Wenn die Kombination aller Sinne, und eine überragende Verarbeitungsleistung, viel bessere lebensrettende Effekte hat als die Verbesserung eines einzelnen Sinns, dann wird klar daß eine Optimierung des Gehörs für sich gesehen vielleicht gar nicht so wichtig war. Falsch ist dann nicht das Argument per se, sondern seine Fokussierung auf das Gehör.
Ein weiterer, vielleicht noch offensichtlicherer Fehler bzw. Widerspruch zeigt sich beim Thema Streß, welches ja ebenfalls häufig im Zusammenhang mit Blindtests diskutiert wird. Man argumentiert auf audiophiler Seite gern, daß die unnatürliche Situation beim Blindtest Streß erzeuge, und daß sich dadurch die Hörfähigkeit vermindere. Abgesehen davon, daß das als Selbstverständlichkeit dargestellt wird, für das man es gar nicht für nötig hält, irgendwelche Nachweise zu erbringen, beißt sich das auch mit dem Argument aus der Evolution. Der Widerspruch scheint den Audiophilen gar nicht aufzufallen:
Wenn unsere Hörfähigkeiten darauf zurückgehen sollten, daß sie im Falle von Angriffen durch Raubtiere über Leben und Tod entscheiden können, dann müßten sie eigentlich unter Streß am allerbesten sein. Mehr Streß als akute Todesgefahr ist wohl kaum denkbar, und genau dann müßten eigentlich alle Sinne in Höchstform sein. Wer behauptet, es sei umgekehrt, und unter Streß höre man schlechter, der untergräbt damit gleichzeitig sein Argument aus der Evolution.
Nun sind audiophile Argumentationslinien nicht unbedingt charakterisiert durch innere Konsistenz und inhaltliche Belastbarkeit, besonders nicht in der Hitze des Gefechts, aber man sollte doch hoffen, daß ihnen solche Widersprüche und Ungereimtheiten in weniger konfrontativen Situationen dämmern. Bei etlichen von Ihnen scheint aber das Gegenteil zu passieren: Die Argumente werden immer kruder und unplausibler, mit denen die Fehler überkleistert werden sollen.
Statt zu realisieren, daß man seinen Ohren de facto selber nicht so uneingeschränkt vertraut, wie man vorgibt, und daraufhin seine Ansichten und Haltungen zu überdenken, erklärt man das Vertrauen in sein Gehör quasi zur Ehrenpflicht der audiophilen Zunft, und zum definitiven Charakteristikum für die Unterscheidung zwischen Musikliebhaber und seinem Gegenspieler, dem gefühlsarmen Techniker. Die Frage "Wem traust Du, Deinem Gehör oder Deinen Meßgeräten?", wird quasi zur Gretchenfrage des Hobbies HiFi erklärt, zur Wasserscheide zwischen Glauben und Unglauben.
Dabei ist das eine unsinnige Gegenüberstellung zweier künstlicher Positionen, die sich in Wahrheit gar nicht widersprechen. Ich traue natürlich beidem - bis zu einem gewissen Grad. Und ich gehe davon aus daß das Andere in der Praxis genauso halten, oftmals ohne darüber nachzudenken. Der entscheidende Punkt ist, ob man das, was einem die Sinne vermitteln, ob direkt oder durch unterstützende Instrumente, für plausibel hält. Paßt es zusammen oder sehe ich da Ungereimtheiten? Wenn alles zusammenpaßt, dann habe ich auch Vertrauen. Paßt es nicht, ist das ein Anlaß für Mißtrauen und Zweifel. Meist ergibt sich das ganz intuitiv, und wird auch nicht zwangsläufig bewußt, schon gar nicht sofort. Das kommt davon, daß die menschliche Wahrnehmung ein ständiger Mustererkennungsprozeß ist, bei dem die aktuelle Wahrnehmung mit gespeicherten Mustern verglichen wird. Interessant sind vor allem die Unterschiede, also ob etwas "normal" ist, also im Rahmen des Bekannten und Erwarteten, oder nicht.
Auch hier ist es also eher die gesamte Wahrnehmung, und das darauf basierende Urteil, dem man vertraut, und nicht ein Sinn in Isolation. Zudem ist es eine fundamentale Erfahrung, daß man seiner Wahrnehmung eben nicht immer vertrauen kann. Deswegen haben wir nicht bloß die Fähigkeit zur Wahrnehmung, sondern auch zum Nachdenken (was Zweifel und Lernen mit einschließt). Die besten und vertrauenswürdigsten Ergebnisse erzielt man, wenn man bestmöglichen Gebrauch von beiden Fähigkeiten macht.
Vor diesem Hintergrund erscheint der audiophile Schlachtruf "Vertraue Deinen Ohren!" wie eine Aufforderung, auf das Nachdenken zu verzichten. Und ich glaube wirklich daß das auch oft so gemeint ist. Die Audiophilen verzichten ja selber darauf, weil sie sonst realisieren müßten daß sie ihrem eigenen Anspruch auch nicht genügen, und sie wollen natürlich ebensowenig von anderer Seite darauf aufmerksam gemacht werden, folglich sollen auch die Anderen nicht nachdenken. Nur so bleibt der Irrtum (oder der Selbstbetrug) unbewußt, und der innere Frieden erhalten.
Wenn dann noch wirtschaftliche Interessen dazu kommen, dann sollte eigentlich die Aufforderung, seinen Ohren zu vertrauen, unmittelbarer Anlaß für das Gegenteil sein. Wer es für nötig findet, mir zu sagen wem oder was ich vertrauen soll, der hat meist einen Hintergedanken, und zwar einen nicht ganz uneigennützigen. Es kommt zwar auf der Oberfläche uneigennützig daher, weil ich ja meinen eigenen Ohren vertrauen soll, und nicht etwa ihm oder den seinen. Aber wenn dahinter steht daß ich auf das Nachdenken verzichten soll, dann wird das leicht zum trojanischen Pferd. Ich habe kein Interesse, darauf hereinzufallen.
Das wäre daher meine Antwort auf den audiophilen Schlachtruf: Schärfe Dein Urteilsvermögen, und dann traue Deinem Urteil. Dabei profitierst Du von allen Deinen Sinnen und Fähigkeiten, und nicht bloß von einem.
*) Die "Krone der Schöpfung", so weithin verwendet wie diese Formel sein mag, kräuselt mir die Nackenhaare. Nicht bloß weil es objektiv nicht stimmt, wie man an wesentlich mehr Einzelheiten sehen kann als bloß dem Gehör. Sie bringt so viele falsche Voraussetzungen zusammen wie es bei drei Worten nur geht. Weder haben wir es mit einer Schöpfung zu tun, also etwas das planmäßig und willentlich geschaffen wurde, noch geht es um eine Hierarchie von oben oder unten, besser oder schlechter, Herrscher oder Beherrschter, was durch die Krone symbolisiert würde. Zudem steckt da eine tiefe Egozentrik drin, die Einbildung man sei selbst im Zentrum, der Zweck und das Ziel. Wie viel Schaden wohl aus der Haltung entstanden sein mag, die diese drei Worte auf einen Punkt bringen? Wie überfällig es doch ist, sich davon zu lösen! Ich verwende diese Formulierung nicht zuletzt auch wegen des Schauderns, das sie bei mir auslöst, in der Hoffnung daß ein bißchen davon auch bei meinen Lesern ankommen möge.