Ich weiß es wird bei ihm nichts nützen, aber ich will es wenigstens nicht so aussehen lassen als hätte er damit recht.
esotroner verlinkt auf den Youtube-Kanal namens "Reconquista Germania" von einem Typen der sich Nikolai Alexander nennt, wo man Videos findet, die einem z.B. erklären, wer "wirklich" hinter der Flüchtlingswelle steckt (die US-Hochfinanz, z.B. George Soros). Das findet esotroner "absolut schlüssig".
Ich verstehe zwar nicht wie man solchen eindeutig demagogischen Machwerken auch nur einen Hauch von Schlüssigkeit attestieren kann, es sei denn man ist dem Wahn verfallen, aber ich will wie gesagt nicht so dastehen als hätte ich keine Fakten und Argumente auf meiner Seite. Also quäle ich mich durch diesen Scheißdreck, um ihn auseinander zu nehmen. Ich beziehe mich speziell auf das Video mit dem Titel "Wer steuert die Flüchtlingsinvasion?" vom 29. September 2015.
Alexander redet nicht lange darum herum: Er ist der Ansicht, bei der Flüchtlingswelle handle es sich um eine Invasion, bei einem guten Teil der Flüchtliche um Eroberer. Untermalt von Bildern von unbewaffneten, teils recht abgerissen wirkenden Zivilisten, die sich scharenweise in Marsch gesetzt haben, wirkt das unfreiwillig komisch. Invasionstruppen hatte ich mir bisher anders vorgestellt, mit Waffen und in Uniformen, so wie das in der Vergangenheit war. Man kann sich ja zur Vergewisserung, daß einen die Erinnerung nicht trügt, ein paar Videos von der Invasion Polens durch die deutsche Wehrmacht zu Beginn des zweiten Weltkriegs ansehen. Oder wenn einem das zu sehr an die Volksseele geht, vielleicht die Invasion der Alliierten an der Atlantikküste ein paar Jahre danach. Vielleicht hätte denen damals jemand sagen sollen, daß das alles viel einfacher geht, wenn man unbewaffnet und im T-Shirt kommt.
Nur: Warum es sich um Eroberer und Invasoren handeln soll, und nicht um das was es allem Anschein nach ist, nämlich Flüchtlinge, das begründet er nicht. Für mich sehen die Leute in seinen Videoschnipseln aus wie Flüchtlinge eben aussehen. Wenn es Invasoren sein sollten sind sie gut verkleidet.
Es ist auch keineswegs mysteriös warum die alle gerade im vergangenen Jahr bei uns angekommen sind. Alexander stellt sich hier weitaus dämlicher als er ist. Wer sich nur ein klein wenig informiert hat, für den war der steile Anstieg der Flüchtlinge im Sommer 2015 keine Überraschung. Das war eine Krise mit Ansage. Da sind einige Faktoren zusammen gekommen, die sich schon länger zusammengebraut haben, und das ist auch wohlbekannt:
- Die Flüchtlingslager um Syrien herum waren chronisch unterfinanziert, sogar die Essensrationen mußten von der UN wegen Unterfinanzierung zusammengestrichen werden. Die meisten Länder in der EU waren offensichtlich der Ansicht, das ginge sie nichts an, und die syrischen Nachbarstaaten würden das schon hinkriegen. Zudem hat der sich in die Länge ziehende Syrienkrieg dazu geführt, daß Leute, die zuerst dachten sie müßten nur ein paar Monate in Lagern in der Nähe überdauern, sich darauf einstellen mußten, daß sie auf unabsehbare Zeit nicht zurückkehren können. Da fängt man automatisch an, sich über Alternativen Gedanken zu machen, auch wenn sie gefährlich sind.
- Die Umwälzungen des arabischen Frühlings haben nicht bloß Syrien betroffen, sondern auch andere arabische Länder, und natürlich gab's aus allen betroffenen Ländern Leute mit gutem Grund zu fliehen. Jeder der auch nur ansatzweise versucht, sich in ihre Situation zu versetzen, wird das problemlos nachvollziehen können.
- Libyen hat zu Ghaddafi's Zeiten die Flüchtlinge aus Schwarzafrika noch zurückgehalten, die schon damals auf dem Weg nach Norden waren. Schon seit vielen Jahren befinden sich an der afrikanischen Mittelmeerküste zahlreiche Flüchtlinge, die auf ihre Chance warten, nach Europa zu kommen, und denen es auch immer wieder gelingt. Siehe z.B. die Grenzbefestigungen der spanischen Exklaven in Marokko: Ceuta und Melilla. Mit der Beseitigung des unterdrückerischen Ghaddafi-Regimes eröffnete sich ihnen eine neue Möglichkeit über das Mittelmeer.
- Wo eine Nachfrage nach Schleusern ist, da entwickelt sich auch ein Angebot. Wer weiß wie viel Geld die Leute für eine Schleusung bezahlen, der braucht keine Theorien mehr zu entwickeln welche Hochfinanz oder welches Establishment die Flucht finanziert haben könnte. Es sind die Flüchtlinge selbst. Und es ist ein einträgliches Geschäft.
- Wo immer sich ein funktionierender Fluchtweg zu ergeben scheint, wird er sich in Windeseile herumsprechen. Dafür sorgen schon die Schleuser und die moderne Telekommunikation. Und die Schleuser werden im Interesse ihres Geschäfts alle möglichen Versprechungen machen, aus denen dann natürlich Erwartungshaltungen werden, mit denen wir uns hier herumschlagen müssen. Ist das so überraschend?
- Das EU-Flüchtlingssystem (Dublin in seinen diversen Stufen) war untauglich für solch einen Andrang. Das war ebenfalls im Vorhinein klar und ist von Institutionen, die sich damit auskennen, auch so vorhergesagt worden. Konkret hätte Italien einen großen Teil der Lasten zu tragen gehabt, denn dessen Boden betraten die Flüchtlinge zuerst, die aus den Booten gerettet wurden. Es ist absolut verständlich, daß Italien das als unfair empfinden, und bei ausbleibender Solidarität irgendwann hintertreiben würde. Ich erinnere an die Aktion "Mare Nostrum", die Italien selbst finanziert hat, und die dann von der EU-Operation "Triton" ersetzt wurde, die aber weniger als ein Drittel der Mittel erhielt, und keine Seenotrettung auf hoher See mehr vorsah.
- Die unverantwortliche und unwirksame EU-Flüchtlingspolitik hat in immer größerem Ausmaß EU-Bürger mobiliziert, die es unerträglich und inhuman fanden, die Flüchtlinge in großer Zahl im Mittelmeer umkommen zu lassen. Besonders nachdem immer deutlicher wurde, daß die EU bzw. deren Mitgliedstaaten eher daran interessiert waren, die Flüchtlinge fernzuhalten, und ihren Tod im Mittelmeer in Kauf zu nehmen, anstatt wirksam gegen die Fluchtursachen und/oder die Fluchtgefahren vorzugehen.
Und was auch klar ist: Der Dammbruch gibt Trittbrettfahrern eine Gelegenheit, auf die sie gewartet haben. Auch hier stellt sich Alexander extra dumm, wenn er sich wundert warum aus dem Kosovo die Asylanträge 2015 in die Höhe geschnellt sind. Es ist völlig klar warum das so ist: Sie dachten die Gelegenheit ist günstig. Das mußte ihnen niemand einflüstern, da sind die schon ganz von selber drauf gekommen. Das hat auch nichts mit einer Invasion zu tun, sondern ist eine einfache Folge des Armutsgefälles zwischen dem Kosovo und der EU. Damit sich Leute zur Flucht aufmachen, müssen üblicherweise drei Dinge zusammen kommen:
- Prekäre Verhältnisse
- Mangelnde Hoffnung, daß sich diese bald bessern werden
- Eine Gelegenheit, bzw. eine Hoffnung auf eine solche, anderswo in der Welt.
Es ist auch nicht so daß ich das Gefühl hätte, mir wäre da von den Medien was verschwiegen worden. Ich bin immer recht problemlos an die Informationen heran gekommen, die mich interessiert haben. Daß Alexander sogar dunkle Machenschaften vermutet, bloß weil vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in den Statistiken nur die Top Ten der Herkunftsländer explizit dargestellt sind, ist einesteils kurios, andererseits genau das was man bei Verschwörungstheoretikern regelmäßig beobachtet. Die sind ohne weiteres in der Lage, dunkle Machenschaften schon dann zu vermuten wenn es mal drei Tage hintereinander regnet (kann das noch Zufall sein? Hat nicht der Bundespräsident in Indien gesagt, Regen sei willkommen? Wollen vielleicht die Amerikaner unsere Agrarwirtschaft schädigen? Alles Fragen, auf die uns die Lügenpresse eine schlüssige Antwort verweigert!)
So habe ich es trotz angeblicher Lügenpresse geschafft, mir von Anfang an klar darüber zu sein daß die Flüchtlinge nicht bloß von Syrien kommen, sondern auch aus anderen Ländern wo Krieg und Elend herrschen. Und daß aus Syrien "nur" 20% der Asylanträge gekommen sind, wundert mich auch nicht wenn ich sehe, daß die von Alexander gezeigte Statistik vom Juni 2015 ist, wo es mit der Welle erst gerade richtig los ging, und viele neu angekommene Flüchtlinge noch nicht mal erfaßt waren, geschweige denn Gelegenheit hatten, einen Asylantrag zu stellen. Der explosive Anstieg in 2015 ist daher mit den Kriegen in Syrien, Irak, etc. und dem arabischen Frühling sehr wohl zu erklären, genauso wie der starke Anstieg in 1992 eindeutig mit dem Balkankrieg zu tun hatte. Alexander münzt seine eigene Unfähigkeit zum Denken in eine abstruse Verdächtigung um, das müsse deswegen so sein weil die Leute angelockt wurden, ja sogar daß Politiker das Aussterben der deutschen Bevölkerung wünschen würden. Beweis: Ein Ausspruch Gregor Gysi's, den Alexander "sinngemäß" verfälscht hat.
Daß ein Teil der Flüchtlinge tatsächlich vor Krieg und Zerstörung fliehen, räumt Alexander ein, aber nur um schon im nächsten Satz die "Vernichtungspolitik der USA und der EU" dafür verantwortlich zu machen. Sonst niemand. Keinen Assad, keinen IS, keine Taliban, keine Muslimbrüder, kein Al Quaida. Nur USA und EU. Soll heißen: Die USA und die EU vernichten den nahen Osten, damit von dort haufenweise Leute zu uns fliehen, und hier den Untergang des Abendlandes herbeiführen. Ja sie locken die Leute extra dafür hierher. Logisch?
Wenn man sowieso glaubt, daß hinter allem Bösen die USA stecken, und daß einzig den "Qualitätsmedien" aus Russland zu trauen ist, dann erscheint einem das vielleicht wirklich als logisch. Nur hat man dann das kritische Denken schon längst an der Garderobe abgegeben.
Wobei, der Gedanke hat ja durchaus etwas absurd-komisches: Die USA haben schon seit Jahrzehnten auf deutschem Boden jede Menge militärische Ausrüstung, bis hin zu Atomwaffen. Sie wollen die EU und insbesondere Deutschland destabilisieren oder gar vernichten. Da liegt es doch nahe, nicht wahr, daß sie eine andere Weltregion angreifen, nur damit dann von dort Leute hierher kommen und uns destabilisieren. Die Waffen direkt hier vor Ort einzusetzen, das wäre viel zu einfach, stimmt's? Da wäre ja der ganze Witz raus. Und ist nicht der nahe Osten die allerbeste Wahl als Angriffsziel? Man hätte ja auch Russland angreifen können, das hätte die EU auch destabilisiert. Aber das wäre nicht so schön chaotisch geworden wie im nahen Osten.
So gesehen ist so eine Verschwörungstheorie ganz lustig. Bzw. wäre lustig, wenn sie nicht so unendlich dumpf wäre: Die USA sind immer schuld. So einfach ist das.