Beim Verhalten scheint es auch nicht anders zu sein. Staaten scheinen sich genauso zu verhalten wie ein 16-Jähriger, und 16-Jährige wollen's mit Staaten aufnehmen. Und auf allen Ebenen wird geheuchelt, und man biegt sich seine Wahrheit zurecht, selbst wenn man sich dabei völlig absurd verhalten muß.
Es geht natürlich um Wikileaks. Kein audiophiles Thema, ok, aber irgendwie sehe ich da auch Parallelen. Die Art und Weise wie manche Leute sich ihre Weltbilder verteidigen, und das Ausmaß an Desinformation das dabei produziert wird, kommt mir irgendwie bekannt vor. Wie im Kleinen so im Großen.
Das Gute dabei ist daß Heuchelei, Lüge und Betrug im Angesicht der Wahrheit so deutlich sichtbar werden.
Beispiel US-Diplomatenkorrespondenz. Man behauptet, die Veröffentlichungen seien nicht wirklich etwas Neues, und übertrifft sich gleichzeitig darin, immer noch monströsere Anschuldigungen auszusprechen und Gefahren an die Wand zu malen. Der Widerspruch scheint manchen gar nicht aufzufallen.
Investigativer Journalismus ist nun wirklich nichts Neues, und zu seinen Geschäftsgrundlagen gehört es, vertrauliche oder geheime Quellen anzuzapfen und zu veröffentlichen. Wikileaks ist dabei wenig mehr als eine weitere Quelle, im Grunde gibt es nur zwei Unterschiede zur Situation vor der Zeit von Wikileaks:
- Informant und investigativer Journalist brauchen nicht direkt in Kontakt zu treten, Wikileaks fungiert als Zwischenstation, die letztlich den Informantenschutz verbessert.
- Die Quellen werden von Wikileaks der interessierten Öffentlichkeit direkt zugänglich gemacht. Auch wenn die meisten Leser die Informationen nach wie vor aus der Presse entnehmen werden, so können sie doch bei genügend Interesse die Quellen auch selbst studieren, und so letztlich auch die Journalisten bei ihrer Arbeit kontrollieren.
Unter diesen Medien ist auch die New York Times, eine traditionsreiche US-Tageszeitung. Während Wikileaks sich gefallen lassen muß daß man fordert, ihre Leitfiguren wie Terroristen zu behandeln, die man ohne rechtsstaatliches Verfahren einfach ausschalten kann, muß sich die New York Times gerade einmal "unpatriotisches Verhalten" vorhalten lassen. Dabei lesen weitaus mehr Leute die Botschaftsdokumete in der Zeitung als auf der Wikileaks-Webseite. Wenn also die Veröffentlichung dieser Dokumente so übel wäre, dann wären die Zeitungen weitaus "schuldiger" als Wikileaks.
Aber die Presse hat ja noch immer ihre "Pressefreiheit". Die scheint im Moment noch etabliert genug zu sein daß man sie nicht direkt und unverblümt in Frage stellen kann. Bei Wikileaks kann man aber so tun als wäre das etwas ganz anderes und hätte mit Pressefreiheit nichts zu tun. Dabei würde jede Zeitung die etwas von sich hält eine solche Dokumentensammlung wie die Botschaftsdokumente mit Handkuß annehmen und ausschlachten, auch wenn kein Wikileaks dazwischen wäre. Und wenn sie es nicht ausschlachten würden, dann hätten sie als "freie Presse" abgedankt und wären de facto überflüssig. Wie sonst wären die diversen älteren Skandale aufgedecht worden, die in die Geschichte eingegangen sind? Welcher dieser Skandale hätte aufgedeckt werden können ohne geheime Dokumente die an die Presse durchgestochen werden? Watergate? Parteispendenaffäre?
Der Umgang mit Wikileaks ist daher entlarvend: Bei den Angriffen auf Wikileaks könnte man auch die Presse dafür einsetzen. Wer Wikileaks offen angreift äußert damit das was er auch der Presse gegenüber denkt, aber sich nicht zu sagen traut, weil die Pressefreiheit Verfassungsrang hat. Die Heuchelei wird sichtbar, und die insgeheime Einstellung auch.
Was aber fast noch interessanter ist als das Verhalten der betroffenen Regierungsvertreter ist das Verhalten mancher Medien. Im Grunde müßten die Medien Wikileaks eigentlich als eine Chance begreifen , an Material bequemer und sicherer heranzukommen. An dem Material müßten sie natürlicherweise interessiert sein, denn daraus machen sie ihre Stories. Konkurrenz ist Wikileaks eher nicht, denn wer liest schon hunderttausende Dokumente im Wortlaut (und in der Originalsprache) um sich einen Überblick zu schaffen? Das veröffentlichte Material verlangt ja geradezu nach einer Bearbeitung und Bewertung durch die Medien, und genau darin liegt Chance und Aufgabe der Medien.
Etliche Blätter und Kanäle reagieren aber so als hätten sie mit Wikileaks ein Huhn zu rupfen. Das kommt in meinen Augen einer Selbstkastration gleich. Das wirkt auf mich so als wäre den entsprechenden Medien eine vorgefilterte Pressekonferenz des US-Militärs über Guantanamo Bay lieber als ein Insassenbericht. Ist ja auch bequemer, nicht wahr? Man will ja nicht wirklich die Wahrheit wissen, für die müßte man sich ja anstrengen, und würde sich womöglich noch Feinde machen. Nächstes Mal wird man womöglich vom US-Militär zur Pressekonferenz gar nicht mehr eingeladen...
Vielleicht ist's aber auch einfach Neid. Neid daß man nicht zu den handverlesenen paar Zeitungen gehört die von Wikileaks ins Vertrauen gezogen wurden. Da lamentiert man lang und breit darüber wie scheiße so eine Veröffentlichung doch ist, und welche Fehler der Wikileaks-Chef doch hat, und letzlich ist man bloß eingeschnappt weil man von ihm nicht ausgesucht worden ist. So kam's mir diese Woche z.B. bei der Süddeutschen Zeitung vor. Krasses Beispiel dafür war der Kommentar des Chef-Außenpolitikers der Zeitung Stefan Kornelius, in dem er unter partieller Ausblendung der Realität alles zusammengeklaubt hat was man Assange ans Bein binden kann. Ich habe mich drüber aufgeregt, bis mir klar geworden ist daß er sich damit wohl mehr entlarvt hat als er selber realisiert.
Er schreibt über Assange: "Seine Veröffentlichungen im Namen der Freiheit richten Schaden an. Sie zerstören Politik, gefährden Menschen, können Ökonomien beeinflussen." Für einen politischen Journalisten ist das in meinen Augen ein Offenbarungseid und eine geradezu peinliche Selbstentblößung. Von daher finde ich es direkt wertvoll, ich bewundere Wikileaks dafür wie solche Falschheiten ans Tageslicht befördert werden, gerade auch die die nicht direkt in den Dokumenten stehen, sondern die die sich an den Reaktionen ablesen lassen.
Welche Politik wird zerstört? Welche Menschen werden gefährdet? In welche Richtung werden Ökonomien beeinflußt? Welcher Schaden wird verursacht?
Ist das automatisch schlecht? Was ist mit dem potentiellen Nutzen?
Ich frage mich dagegen: Was ist ein Journalist wert der nicht Politik zerstören oder besser gesagt stören will*, wenn er die Möglichkeit dazu hat? Was ist ein Journalist wert dem die Wahrheit nicht wichtiger ist als ein Risiko? Welcher selbstbewußte Journalist wäre damit zufrieden, wenn er nichts beeinflussen kann?
Die Veröffentlichung der Wahrheit wäre sogar dann zu befürworten wenn manche Leute dadurch in Gefahr kommen, denn die Wahrheit zu verheimlichen gefährdet üblicherweise ebenfalls Leute. Wahrheit ist gefährlich, weil es so viele Lügner gibt. Als krasses Beispiel kann der Irak-Krieg herhalten: Der hat hunderttausenden Menschen das Leben gekostet, und er basiert auf einer Lüge. Ohne diese Lüge würden viele davon wahrscheinlich noch am Leben sein. Wir brauchen mehr Wahrheit, nicht Leute die uns erzählen daß Wahrheit für uns gar nicht gut ist, und schon gar nicht Journalisten die uns das erzählen.
Dabei stimmt es gar nicht daß die Dokumente auf verantwortungslose Art und Weise veröffentlicht worden wären. Im Gegenteil, genau deswegen hat ja Wikileaks die Zeitungen eingespannt. Wenn es ohne Rücksicht auf Verluste nur um die Veröffentlichung gegangen wäre, dann hätte man das ganze Material einfach unbearbeitet komplett ins Netz stellen können und sich den Aufwand mit den Zeitungen sparen können.
Ist es nicht verblüffend? Ein bißchen Wahrheit, und schon konkurrieren etliche Leute, und ganze Regierungen, darum wer die absurdeste Vorstellung gibt. Wer ein bißchen Grips hat braucht die veröffentlichten Dokumente gar nicht zu lesen. Die Reaktionen der Betroffenen sagen genug.
Kommentare im üblichen Thread.
* Was soll das überhaupt bedeuten, "Politik" zu zerstören? Welche verquere Vorstellung von Politik muß man haben wenn man glaubt daß sie zerstört werden kann indem man ein paar Dokumente veröffentlicht? Das Veröffentlichen von geheimen Dokumenten ist Bestandteil und Mittel von Politik, und beileibe nicht deren Ende.