Mittwoch, 22. Dezember 2010

Unerwünschte Apostaten

Es gibt ja eine Menge von ehemaligen Audiophilen, die irgendwann gemerkt haben welche verlogene und selbstbezogene Szene das ist, und wie wenig deren Glaubenssätze mit der Realität zu tun haben. Ich habe bloß den Eindruck das da die Dunkelziffer ziemlich groß ist. Ich denke ich habe auch eine Erklärung dafür.

Wenn jemand von seinem Glauben abfällt und sich davon distanziert dann nennt man das Apostasie. Öffentliche Apostasie ist schon immer recht selten gewesen, denn man gibt dabei ja öffentlich zu daß man vorher völlig falsch gelegen hat. Schon dafür braucht es, wenn es um wichtige Dinge und nicht bloß eine Lappalie geht, ziemlich viel Charakter und Selbstsicherheit. In solchen wichtigen Dingen, die auch eine Bedeutung für die gesellschaftliche Umgebung haben, kommt aber oft noch ein ziemliches Ausmaß an sozialem Druck dazu. Dem muß man erst einmal zu trotzen wagen, zumal man ja wegen seines eingestandenen Irrtums recht verwundbar ist. Wer immer "recht" hatte und auf Kurs bleibt hat erst einmal die besseren Karten.

Bei den Religionen war das schon immer so, und man hat haufenweise Anschauungsmaterial wie das funktioniert. Die meisten Leute nehmen eher innerlich Abschied davon und hängen's nicht an die große Glocke, anstatt sich offen als Abtrünniger zu outen, und dabei Gefahr zu laufen, einen Teil seines sozialen Umfelds vor den Kopf zu stoßen. Es ist dabei immer mehr im Spiel als einfach eine prersönliche Ansicht oder Meinung. Und wenn man es selbst schon als eine bloße Meinungssache ansieht, so sorgt die Umgebung oftmals dafür daß der Einsatz höher wird.

Was die Religion angeht haben wir uns in Europa durch Humanismus und Aufklärung ein Ausmaß an Freiheit erobert das die Apostasie ohne sozialen Selbstmord ermöglicht. Das ist beileibe nicht selbstverständlich, auch heute noch nicht, und auch im christlichen Teil der Welt nicht. In anderen Teilen der Welt kann einem die Apostasie noch immer den Tod einbringen. Den realen, nicht bloß den sozialen.

Das ist natürlich weit entfernt von der Situation bei Hifi-Enthusiasten, aber auch da gibt es Apostaten, und ich finde es auffällig wie man mit ihnen umgeht. Ich denke viele Hifi-Apostaten können meine Beobachtungen bestätigen:

Zuerst verhält sich der Audiophile so als hätte er ein Wissen das der Abstreiter erst noch erwerben muß, und er scheint zu glauben daß es bloß die richtige Hörerfahrung mit einer anständigen Anlage bräuchte, und der Abstreiter wäre gewissermassen "geheilt". Mit anderen Worten, der Abstreiter "ist noch nicht so weit", und der Audiophile ist ihm um ein paar Schritte voraus. Entsprechend gönnerhaft treten manche auf, zählen Höranekdoten mit teuren Anlagen auf in der anscheinenden Hoffnung dem Betreffenden seinen Mangel vor Augen zu führen.

Man kann dann als Abstreiter durchblicken lassen daß man genau diese Phase schon vor zehn oder zwanzig Jahren durchlaufen hat und inzwischen nicht nur die entsprechenden Hörerfahrungen hinter sich hat, sondern auch die audiophile Überzeugung. Daß man eben nicht noch was nachzuholen hätte, sondern im Gegenteil schon ein paar Schritte weiter ist und seinen früheren Fehler begreift.

Aber das hilft nichts. Wer von Euch Abstreitern da draußen hat darauf schon einmal eine vernünftige Reaktion gekriegt? Ich nicht. In aller Regel reagiert man darauf überhaupt nicht. Es wird einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Wenn man Glück hat und es kommt überhaupt eine Reaktion, dann kriegt man's mit Spekulationen zu tun daß man eben doch nicht die richtige Anlage gehört hat, oder daß man ein Problem mit dem Gehör hat, oder daß man nicht erlebnisfähig ist, oder dogmatisch verbohrt. Dabei wird völlig übersehen daß der Apostat ja mal selber ein Audiophiler war und darum zumindest mal geglaubt haben muß daß er die richtige Anlage und das passende Gehör hat um das alles zu hören was die Audiophilen hören.

Und genau da liegt auch ganz allgemein das Problem mit den Apostaten. Ein Apostat sagt sich ganz bewußt von etwas los, nicht weil er es nicht kennen würde, sondern im Gegenteil weil er es zu gut kennengelernt hat um noch dran glauben zu können. Dem Ungläubigen kann man mit Milde und Mitleid begegnen, denn er ist eben einfach noch nicht erleuchtet worden. Der Apostat dagegen weiß genau Bescheid, er kennt die inneren Widersprüche ganz genau die man so gern unter den Teppich kehrt. Der Ungläubige ist ein Ansporn, der Apostat ist eine Gefahr.

Aus dieser Sicht wird klar warum Apostaten zumindest unbeliebt sind, und nicht selten angefeindet werden. Ein Apostat demonstriert mit seinem Beispiel, daß es ein "Leben nach dem Glauben" gibt, daß man darüber hinweg kommen kann und der Glaube nicht etwa das Ende der Fahnenstange ist, sondern ein Phase die man hinter sich lassen kann und dann auch kein Bedürfnis mehr danach verspürt, dahin zurück zu kommen. Einsicht ist eine Einbahnstrasse. Man kann sie nicht rückgängig machen.

Es gibt höchstens faustische Zweifel an der gewonnenen Einsicht, manche Leute sehnen sich in die selige Einfalt zurück. Aber auch Faust hätte das nicht getan selbst wenn er gekonnt hätte.


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